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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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fasziniert, wie sie langsam von Wein durchtränkt wurde. Nun hatte sie fast denselben Farbton wie die Servietten. Ein Hausmütterchen, ja, das war sie. Wein war aus ihrem Glas geschwappt und hatte die Tischdecke besudelt. Auch das hellblaue Einwickelpapier ihres Geschenkes für David hatte Spritzer abbekommen. Einem Impuls folgend, hob sie es auf und riß das Papier herunter. Ich bin wirklich ganz schön betrunken, schoß es ihr durch den Kopf.
    Der Fotoapparat war kompakt und lag angenehm schwer in ihrer Hand. Norah hatte wochenlang nach einem passenden Geschenk gesucht, bis sie ihn, in einem Schaufenster bei Sears, entdeckt hatte. Schwarz und aus blitzendem Chrom, mit komplizierten Skalen, Hebeln und Nummern, die in die Ringe eingraviert waren, hatte die Kamera sie, mehr als alles, was sie bis dahin ins Auge gefaßt hatte, an Davids medizinische Ausrüstung erinnert. Der Verkäufer, jung und beflissen, hatte sie mit technischen Informationen über Blendeneinstellungen und Weitwinkelobjektive überhäuft. Die Begriffe waren an ihr vorbeigerauscht, ohne hängenzubleiben, aber ihr gefiel das Gewicht der Kamera, ihre kühle Oberfläche und die Tatsache, daß die Welt so präzise eingefaßt war, wenn man sie ans Auge führte.
    Zärtlich berührte sie jetzt den silbernen Knopf. Ein lautes Klicken und Schnappen hallte im Zimmer wider, als sie den Auslöser drückte. Dann drehte sie an dem kleinen Rädchen, das den Film weiterbeförderte – sie erinnerte sich, daß der Verkäufer »den Film weiterdrehen« gesagt hatte, da sich seine Stimme in diesem Moment von der Geräuschkulisse des Ladens abgehoben hatte. Das Suchfenster rahmte die Zerstörung auf dem Tisch, und sie drehte an zwei verschiedenen Rädchen, um das Bild zu fokussieren. Dieses Mal explodierte an der Wand gegenüber Licht, als sie den Auslöser betätigte. Blinzelnd drehte sie die Kamera um, um die Lampe zu betrachten, die einst hellblau gewesen und nun schwarz verbrannt war und Blasen geworfen hatte. Als sie das Blitzlicht |111| ersetzte, verbrannte sie sich dabei die Finger, aber der Schmerz drang nicht zu ihr durch.
    Dann sah sie auf die Uhr. Es war 9 Uhr 45.
    Nieselregen. David war zur Arbeit gelaufen, und sie stellte sich vor, wie er müde durch die dunklen Straßen nach Hause tappte. Einer Eingebung folgend, griff sie nach ihrem Mantel und den Autoschlüsseln – sie würde zur Klinik fahren und ihn überraschen.
    Das Auto war kalt. Sie fuhr rückwärts aus der Einfahrt, fingerte an der Lüftung herum und fuhr aus alter Gewohnheit in die falsche Richtung. Selbst nachdem sie ihren Fehler erkannt hatte, fuhr sie auf den engen, nassen Straßen weiter, die zu ihrem alten Haus führten. Zurück zu dem Ort, wo sie voll unschuldiger Hoffnung das Kinderzimmer eingerichtet und wo sie Paul im Dunkeln gestillt hatte. David und sie waren sich darüber einig gewesen, daß es das beste wäre umzuziehen, doch in Wahrheit konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, dieses Haus zu verkaufen. Noch immer kam sie fast jeden Tag hierher. Welcherart auch immer das Leben ihrer Tochter gewesen sein mochte und was auch immer sie selbst von ihrer Tochter mitbekommen hatte, es hätte oder hatte in diesem Haus stattgefunden.
    Außer der Tatsache, daß das Haus dunkel war, sah es aus wie immer: die großzügige Veranda mit ihren vier weißen Säulen, der grob behauene Kalkstein und ein einzeln brennendes Licht. Nur ein paar Meter weiter wohnte Mrs. Michaels. Sie wanderte in ihrer Küche umher, wusch ab und starrte in die Nacht hinaus; auch Mr. Bennett war da, saß bei offenen Vorhängen in seinem Sessel und sah fern. Fast glaubte Norah, während sie die Stufen zur Veranda erklomm, noch immer hier zu wohnen. Aber die Tür öffnete sich zu frostigen, leeren und erschreckend kleinen Räumen.
    Während sie durch die kalten Zimmer lief, versuchte Norah einen klaren Kopf zu bekommen. Die Wirkung des Weines schien stärker geworden zu sein, und ihr fiel es schwer, |112| die letzten Geschehnisse aneinanderzureihen. Sie hielt Davids neuen Fotoapparat in der Hand. Das war eine Tatsache, kein Entschluß. Es waren noch fünfzehn Bilder übrig, und Ersatzlämpchen hatte sie in der Tasche. Zufrieden, als die Lampe aufblitzte, machte sie ein Foto vom Kronleuchter. Jetzt würde sie immer ein Bild davon zur Hand haben und müßte nicht eines Nachts, in zwanzig Jahren, aufwachen, ohne sich an dieses Detail, diese anmutigen goldenen Sicheln, erinnern zu können.
    Noch immer betrunken, aber jetzt mit

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