Die Tochter des Fotografen
schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen. Dann machte sie, das Glas in der Hand, einen Rundgang durch das Haus, um ihre Arbeit zu begutachten. Die Schritte klangen hohl auf dem frisch gebohnerten Boden. Draußen fiel der Regen in Strömen und verwusch die Lichter der gegenüberliegenden Häuser.
Norah erinnerte sich an jene andere Nacht, an den wirbelnden Schnee. David hatte sie am Ellbogen geführt und ihr in den alten grünen Mantel geholfen, der jetzt nur noch ein zerrissenes Etwas war, das sie trotzdem nicht wegwerfen konnte. Der offene Mantel war um ihren prallen Bauch gefallen, und ihre Blicke waren sich begegnet. Besorgt, ernst und voller Nervosität war er gewesen. In diesem Augenblick hatte sie geglaubt, ihn so gut zu kennen wie sich selbst.
Nun war alles anders, David hatte sich verändert. An Abenden, an denen er neben ihr auf der Couch saß und in seinen Magazinen blätterte, war er mit seinen Gedanken woanders. In ihrem früheren Leben, als Vermittlerin von Ferngesprächen, hatte Norah, während sie kalte Schalter und Metallknöpfe bediente, auf das entfernte Klingeln und den Klick achten müssen, die ihr anzeigten, wenn eine Verbindung zustande |106| gekommen war. »Bitte warten«, hatte sie dann gesagt, und meist hallten die Worte und kamen mit Verzögerung an. Der abrupte Beginn und das plötzliche Ende der Gespräche machten die stürmische, elektrostatische Nacht zwischen den Telefonierenden sichtbar. Manchmal hatte sie ihnen zugehört, hatte Stimmen von Menschen gelauscht, die sie nie treffen würde und die formelhafte, aber tief empfundene Nachrichten von Geburtstagen, Hochzeiten, Krankheiten oder Todesfällen austauschten. Sie hatte die schwarze Nacht, die diese Menschen trennte, vor Augen, und sie war sich ihrer Fähigkeit bewußt, sie zu überbrücken.
Eine Fähigkeit, die sie, zumindest jetzt, da sie sie so dringend brauchte, verloren hatte. Manchmal, selbst wenn sie sich mitten in der Nacht liebten und das Herz des anderen gegen den eigenen Körper schlagen spürten, hörte sie das dunkle, weite Rauschen des Universums.
Inzwischen war es schon nach acht. Die Dunkelheit begann die Umrisse aufzuweichen. Sie ging in die Küche zurück, stellte sich vor den Ofen und pickte an dem ausgetrockneten Schweinebraten herum. Direkt aus der Pfanne aß sie eine Kartoffel, die sie mit der Gabel in der Bratensoße zerdrückte. Auch das Broccoligratin probierte Norah und verbrannte sich daran den Mund. An der Spüle stehend, stürzte sie ein Glas Wasser herunter, dann noch eins. Währenddessen mußte sie sich am Küchentresen festhalten, weil alles um sie herum so instabil geworden war. »Ich bin betrunken«, dachte sie erstaunt und war ein bißchen zufrieden mit sich. Sie war noch nie betrunken gewesen. Aber Bree war eines Abends vom Tanzen nach Hause gekommen und hatte sich auf den Linoleumboden erbrochen. Man hätte ihr etwas in den Punch getan, erklärte sie ihrer Mutter, aber Norah gestand sie die Wahrheit: die Flasche in der braunen Papiertüte, ihre Freunde, die sich in den Büschen versammelt hatten und kleine, scharf umrissene Atemwolken in die Nacht ausstießen.
|107| Das Telefon schien weit weg zu sein. Während sie darauf zulief, fühlte sie sich eigenartig, als ob sie außerhalb ihres Körpers schweben würde. Den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, hielt sie sich mit einer Hand am Türpfosten fest, während sie mit der anderen wählte. Bree nahm beim ersten Klingeln ab.
»Ich wußte, daß du es bist«, sagte sie. »Paul geht es gut, wir haben uns ein Buch angesehen, er hat gebadet, und nun schläft er fest.«
»Oh, gut. Prima«, erwiderte Norah. Eigentlich hatte sie Bree davon erzählen wollen, wie sich die Welt ihr offenbarte, pulsierend, voller Leben, zugleich aber bedrohlich und instabil. Doch plötzlich schien ihr das zu persönlich, ja fast ein Geheimnis zu sein.
»Was ist mit dir?« erkundigte sich Bree. »Geht’s dir gut?«
»Ja, danke«, log Norah. »David ist zwar noch nicht hier, aber ich fühl mich gut.«
Sie legte schnell auf, schenkte sich noch ein Glas Wein ein und trat auf die Veranda hinaus, wo sie ihr Gesicht dem Himmel zuwandte. Ein leichter Nebel hing in der Luft. Der Wein durchströmte sie wie Blut, und die Hitze, die ihn begleitete, breitete sich bis zu ihren Finger- und Zehenspitzen aus. Als sie sich drehte, schien ihr Körper wieder für einen Moment zu schweben, und ihr war, als würde sie aus sich herausgleiten. Sie erinnerte sich an ihr
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