Die Tochter des Fotografen
gestand Norah. »Ich bin froh, daß du gekommen bist.«
»Was ist denn gestern passiert? Wart ihr bei dem Brand dabei?« fragte David wieder. Er und Norah waren in der Nacht vom Heulen der Sirenen und einem beißenden Rauchgeruch aufgewacht und hatten ein seltsames Leuchten am Himmel gesehen. Sie waren nach draußen gelaufen und hatten, zusammen mit ihren Nachbarn, in den dunklen, stillen Gärten gestanden, und ihre Knöchel wurden feucht vom Tau, während das ROTC-Gebäude brannte. Seit einigen Tagen hatten sich die Proteste verschärft. Eine unsichtbare, aber fast greifbare Spannung lag in der Luft, während am Mekong Bomben fielen und Menschen mit sterbenden Kindern auf den Armen um ihr Leben rannten. In Ohio, jenseits des Flusses, waren vier Studenten gestorben. Niemand hatte jedoch mit einem Molotow-Cocktail, einem brennenden Gebäude und Polizeieinheiten gerechnet, die die Straßen von Lexington, Kentucky, stürmten.
Endlich wandte sich Bree David zu. Ihr langes Haar schwang über ihre Schultern, als sie den Kopf schüttelte. »Nein. Ich war nicht da, aber Mark.« Sie lächelte den jungen |196| Mann an ihrer Seite an und hakte ihren schlanken Arm in seinen. »Mark hat in Vietnam gekämpft«, fügte Norah hinzu. »Er protestiert hier gegen den Krieg.«
»Aha«, bemerkte David. »Ich habe also einen Agitator vor mir.«
»Eher einen Demonstranten«, verbesserte Norah und winkte über den Rasen. »Da ist Kay Marshall«, rief sie aus. »Entschuldigt ihr mich?«
»Also meinetwegen einen Demonstranten«, wiederholte David und sah, wie Norah wegging und wie der Wind sacht an den Ärmeln ihres Seidenkostüms zupfte.
»Das trifft es«, bestätigte Mark. Er hatte einen schwachen vertrauten Akzent, der David an den dunklen, melodischen Tonfall seines Vaters erinnerte. »Einer, der unerbittlich für Gleichheit und Gerechtigkeit kämpft«, setzte Mark hinzu, und es sollte ironisch klingen.
»Sie waren in den Nachrichten«, staunte David, der ihn auf einmal erkannte. »Letzte Nacht. Sie hielten eine Art Rede. Dann sind Sie wohl froh über den Brand.«
Mark zuckte mit den Achseln. »Froh kann man nicht sagen. Aber ich bedauere auch nicht, was geschehen ist. Es ist einfach geschehen. Wir machen trotzdem weiter.«
»Warum bist du so feindselig, David?« fragte ihn Bree, wobei sie ihn mit ihren grünen Augen fixierte.
»Ich bin nicht feindselig«, wehrte er ab und merkte noch im Sprechen, daß sie recht hatte. Ihm fiel auch auf, daß er begann – vom starken Sog der Sprache erfaßt, die für ihn so vertraut war –, die Vokale flacher auszusprechen und in die Länge zu ziehen. »Ich sammle nur Informationen. Woher stammen Sie?« wandte er sich an Mark.
»Aus West-Virginia. Aus der Nähe von Elkins. Warum?«
»Ich war nur neugierig. Meine Familie kam aus der Gegend.«
»Das wußte ich gar nicht«, wunderte sich Bree. »Ich habe gedacht, du kommst aus Pittsburgh.«
|197| »Meine Familie lebte in der Nähe von Elkins«, wiederholte David. »Vor langer Zeit.«
»Wirklich?« Mark Fuhrman betrachtete ihn etwas weniger mißtrauisch. »Haben Ihre Eltern im Kohlebergbau gearbeitet?«
»Manchmal. Im Winter. Sie hatten einen Hof. Ein hartes Leben, aber nicht so hart wie die Minen.«
»Haben sie ihr Land behalten?«
»Ja.« Davids Gedanken wanderten zu dem Haus, das er fünfzehn Jahre lang nicht mehr gesehen hatte.
»Das war schlau. Also mein Vater hat unser Zuhause verkauft. Als er fünf Jahre später in den Minen starb, hatten wir keine Bleibe mehr. Wir wußten nicht, wohin.« Mark lächelte bitter und dachte einen Moment nach. »Sind Sie mal wieder da gewesen?« fragte er schließlich.
»Lange nicht. Und Sie?«
»Nein. Nachdem ich in Vietnam war, habe ich angefangen zu studieren, auf der Militärakademie in Morgantown, das GI-Programm. Für mich wäre es seltsam zurückzukehren. Ich gehörte nicht richtig dazu, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
David nickte. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Nun gut«, meldete sich Bree wieder zu Wort. »Jetzt seid ihr beide hier. Ich bin am Verdursten«, fügte sie hinzu. »Mark? David? Wollt ihr was trinken?«
»Ich komme mit«, stimmte Mark zu und reichte David die Hand. »Die Welt ist klein. Ich freue mich, daß ich Sie kennengelernt habe.«
»David ist für uns alle ein Mysterium«, frotzelte Bree, während sie ihn wegzog. »Frag Norah.«
David sah zu, wie sie mit der bunten Menschenmenge verschmolzen. Die zufällige Begegnung hatte ihn seltsam aufgewühlt. Wie eine
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