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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Pinsel ein und freute sich über Pauls Geschichten. Das glitzernde Rasiermesser glitt in geschmeidigen, sauberen Zügen über seine Haut und sandte zitternde Lichtpünktchen an die Decke. Für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen und alle Geschehnisse ausgesperrt zu sein; die laue Frühlingsluft, der Geruch von Seife und die aufgeregte Stimme seines Sohnes waren alles, was er wahrnahm.
    »Ich habe früher auch Kühe gemolken«, erzählte David. Er trocknete sein Gesicht und griff nach seinem Hemd. »Ich |191| konnte einen Milchstrahl direkt in das Maul einer Katze spritzen.«
    »Das hat Jasons Opa auch gemacht! Ich mag Jason gerne. Ich wünschte, er wäre mein Bruder.«
    David band seine Krawatte um und betrachtete dabei Pauls Spiegelbild. In der Stille, die nicht ganz still war – der Wasserhahn des Waschbeckens tropfte, die Uhr tickte leise, raschelnd rieb sich Stoff an Stoff –, wanderten seine Gedanken zu seiner Tochter. Alle paar Monate, wenn er seine Post durchwühlte, stolperte er über Carolines verrückte Handschrift. Obwohl die ersten Briefe aus Cleveland stammten, trug nun jeder Umschlag einen anderen Poststempel. Manchmal legte Caroline auch eine neue Postfachnummer bei – in stets neuen Orten, riesigen, unpersönlichen Städten –, und immer wenn sie dies tat, schickte David Geld. Sie hatten sich nie gut gekannt, aber über die Jahre waren ihre Briefe an ihn immer persönlicher geworden. Die neuesten hätten aus ihrem Tagebuch ausgerissen sein können. Sie begannen mit »Lieber David« oder einfach nur »David« und enthielten Carolines Gedanken, die sie in einem einzigen Schwall niedergeschrieben haben mußte. Manchmal versuchte er die Briefe ungeöffnet wegzuwerfen, aber dann fischte er sie doch jedesmal aus dem Müll und las sie schnell durch. Er bewahrte sie in einem Aktenschrank in der Dunkelkammer auf, so daß er immer wußte, wo sie waren und wo Norah sie nie finden würde.
    Einmal, vor Jahren, als das mit den Briefen anfing, hatte David eine achtstündige Autofahrt nach Cleveland unternommen, um Caroline und Phoebe zu finden. Drei Tage lang war er durch die Stadt gelaufen, hatte Telefonbücher studiert und an jedem Krankenhaus angehalten, um nach ihnen zu fragen. In der Hauptpoststelle war er mit den Fingerspitzen über die kleine Messingtür mit der Nummer 621 gestrichen, aber der Postmeister hatte ihm weder Namen noch Adresse genannt. »Dann warte ich eben, bis jemand kommt«, erklärte David, aber der Mann hatte mit den Achseln gezuckt. »Ma chen |192| Sie nur«, hatte er geantwortet. »Aber bringen Sie sich etwas zu essen mit. Es können Wochen vergehen, bis diese Briefkästen geleert werden.«
    Schließlich hatte er aufgegeben und war nach Hause zurückgekehrt. Er hatte zugelassen, daß die Jahre verstrichen und Phoebe ohne ihn aufwuchs. Jedesmal wenn er Geld schickte, fügte er eine Notiz bei, in der er Caroline bat, ihm zu sagen, wo sie wohne. Aber er versuchte es nicht zu erzwingen und heuerte auch keinen Privatdetektiv an, wie es ihm manchmal in den Sinn kam. Der Wunsch, gefunden zu werden, müßte von ihr kommen, glaubte er, der Wunsch, von ihm gefunden zu werden. Hatte er sie gefunden – bekam er erst einmal die Möglichkeit, diese Angelegenheit zu regeln–, wäre er auch fähig, Norah die Wahrheit zu sagen.
    So hatte er es sich zurechtgelegt, und in diesem Glauben stand er jeden Morgen auf und ging ins Krankenhaus. Er operierte und untersuchte Röntgenbilder, kam nach Hause, mähte den Rasen und spielte mit Paul; sein Leben war ausgefüllt. Trotzdem wachte er alle paar Monate auf, weil er, aus unerfindlichen Gründen, von Caroline Gill geträumt hatte, die ihn aus der Eingangstür oder über die Rasenfläche an der Kirche hinweg anstarrte. Dann wachte er zitternd auf, zog sich an und ging ins Arbeitszimmer hinunter oder hinaus in die Dunkelkammer, wo er an Veröffentlichungen arbeitete oder seine Abzüge in die chemischen Bäder gleiten ließ, während er zusah, wie Bilder aus dem Nichts erwuchsen.
    »Papa, du hast vergessen, die Fossilien zu bestimmen«, sagte Paul vorwurfsvoll. »Du hast es versprochen.«
    »Stimmt«, gab David zu und reiste wieder in die Gegenwart. Er rückte den Krawattenknoten gerade. »Du hast recht, Paul, das habe ich dir versprochen.«
    Zusammen stiegen sie die Treppe hinunter und breiteten die vertrauten Bücher auf dem Tisch aus. Das Fossil gehörte zur Familie der Crinoiden. Es stammte von einem kleinen Meerestierchen, dessen Körper wie

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