Die Tochter des Fotografen
eine Blume geformt war. |193| Die knopfförmigen Steine hatten einst den Stiel gebildet. Davids Hand ruhte leicht auf Pauls Rücken, und er fühlte seine warme, lebendige Muskulatur und die feingliedrige Gliederung der Wirbelsäule direkt unter der Haut.
»Das werde ich Mama zeigen«, erklärte Paul. Er schnappte sich die Fossilien und rannte durchs Haus und zur Hintertür hinaus.
David nahm sich einen Drink und sah aus dem Fenster. Einige Gäste waren schon gekommen und standen in Grüppchen auf dem Rasen; die Männer in dunkelblauen Jacketts und die Frauen wie leuchtende Frühlingsblumen in Pink, lebhaftem Gelb oder Hellblau. Norah bewegte sich zwischen ihnen, umarmte die Frauen, schüttelte Hände und stellte die Gäste einander vor. Als David sie zum erstenmal getroffen hatte, war sie noch so still, so in sich gekehrt und wachsam gewesen. Damals hätte er sie sich niemals in dieser Umgebung vorstellen können. Nie hätte er gedacht, daß sie eine Party geben könnte, die sie bis ins letzte Detail selbst komponiert hatte, und daß sie sich dabei so wohl fühlen und so gesellig sein würde. Während er sie betrachtete, verspürte er Sehnsucht. Wonach? Nach dem Leben, das sie vielleicht hätten haben können. Norah schien sehr glücklich zu sein, wie sie dort inmitten der Gäste lachte. Trotzdem wußte David, daß ihr dieser Erfolg nicht ausreichen würde, nicht einmal für den heutigen Tag. Am Abend würde sie schon irgend etwas anderes vorbereiten, und wenn er in der Nacht aufwachte und mit der Hand die Kurve ihres Rückens nachführe, in der Hoffnung, sie zu wecken, würde sie murmelnd seine Hand festhalten und sich wegdrehen, ohne wach zu werden.
Paul saß jetzt auf der Schaukel und schwang sich hoch in den blauen Himmel. Er trug die Crinoiden an einer langen Schnur um seinen Hals; sie flogen auf und schlugen gegen seine schmale Brust zurück oder schepperten manchmal gegen die Seile der Schaukel.
|194| »Paul«, rief Norah, und ihre Stimme drang klar durch die Fliegengitter. »Paul, nimm das Ding ab. Das ist gefährlich.«
David ging mit seinem Drink nach draußen. Auf dem Rasen traf er auf Norah.
»Laß ihn«, sagte er sanft und legte ihr die Hand auf den Arm. »Er hat es selbst gebastelt.«
»Ich weiß, ich habe ihm die Schnur gegeben. Aber er kann es später ummachen. Wenn er beim Spielen ausrutscht und irgendwo damit hängenbleibt, kann es ihn erdrosseln.«
Sie war so angespannt, daß er seine Hand fallen ließ. »Das ist aber unwahrscheinlich«, konterte er und wünschte, daß er ihren Verlust ungeschehen machen könnte. »Ihm wird schon nichts Schlimmes passieren, Norah.«
»Das weißt du nicht.«
»Trotzdem hat David recht.«
Die Stimme kam von hinten. Er drehte sich um und sah Bree, deren Wildheit, Leidenschaft und Schönheit wie ein Wind durch ihr Haus fegte. Sie trug ein Frühlingskleid aus einem feinen Gewebe, das um sie zu schweben schien, wenn sie sich bewegte. An der Hand hielt sie einen jungen Mann, der kleiner war als sie. Er war sauber rasiert, hatte kurzes rötliches Haar und trug Sandalen und ein offenes Hemd.
»Bree, im Ernst, die Kette könnte sich verheddern und ihn erdrosseln«, beharrte Norah, wobei sie sich ebenfalls umdrehte.
»Er schaukelt«, bemerkte Bree leichthin, während Paul mit zurückgeworfenem Kopf und der Sonne im Gesicht hoch in den Himmel flog. »Sieh doch, wie glücklich er ist. Zwing ihn nicht, herunterzusteigen. David hat recht. Es wird nichts passieren.«
Norah zwang sich zu einem Lächeln. »Nein? Die Welt könnte jeden Moment untergehen. Das hast du jedenfalls gestern noch gesagt.«
»Das war gestern«, sagte Bree. Sie zog Norah leicht zu sich, und dann tauschten sie einen tiefen Blick aus, der sie für einen |195| Moment so miteinander verband, daß jeder andere ausgeschlossen war. Sehnsuchtsvoll betrachtete David die Szene, die ihn plötzlich an seine eigene Schwester erinnerte. Mit June hatte er sich oft unter dem Küchentisch versteckt und verstohlen unter den Falten des Wachstuchs hervorgelugt, während beide ihr Lachen unterdrücken mußten. Er dachte an ihre Augen, die Wärme ihres Armes und die Freude, die er empfand, wenn er mit ihr zusammen war.
»Was war denn gestern los?« fragte David und verscheuchte seine Erinnerungen. Aber Bree ignorierte ihn und sprach weiter mit Norah.
»Tut mir leid, Schwester«, entschuldigte sie sich. »Gestern ging alles drunter und drüber. Ich war ein bißchen neben der Spur.«
»Mir tut es auch leid«,
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