Die Tochter des Fotografen
vor sechs Jahren in Erinnerung rief, als er so langsam und behutsam durch die leeren Straßen gefahren war. Aber auch heute konnte er sich nicht dazu überwinden, schnell zu fahren. Sie passierten das ROTC-Gebäude, das noch immer schwelte. Rauchschwaden, die an schwarze Spitze erinnerten, stiegen von der Ruine auf. In der Nähe blühten Hornsträucher, deren Blüten sich blaß und zerbrechlich von den schwarzen Mauern abhoben.
»Die Welt zerbricht in Stücke. So fühlt es sich für mich an«, sagte Norah sanft.
|203| »Nicht jetzt, Norah.« David erblickte Paul im Rückspiegel. Er war still und beklagte sich nicht, aber seine blassen Wangen waren tränenverschmiert.
Auf der Unfallstation sorgte David dafür, daß die Aufnahme und das Röntgen schnell vonstatten gingen. Er half dabei, Paul in ein Bett zu legen, und ging die Röntgenaufnahmen holen, während Norah ihrem Sohn aus einem Buch vorlas. Als er sie von einem technischen Mitarbeiter entgegennahm, zitterten seine Hände. Die Flure lagen an diesem wunderschönen Samstagnachmittag merkwürdig still da, während er zu seinem Büro ging. Als die Tür hinter ihm zuschlug, stand David noch einen Moment lang allein in der Dunkelheit und versuchte sich zusammenzunehmen. Er wußte, daß die Wände in einem hellen Meergrün gestrichen waren, daß sein Schreibtisch mit Papieren übersät war und daß die Instrumente aus Stahl und Chrom in den Vitrinenschränken auf Tabletts aufgereiht lagen. Aber er konnte nichts sehen.
Er tastete nach dem Lichtschalter, der unter seiner Berührung nachgab. Ein Leuchtkasten, der an die Wand montiert war, fing an zu flackern und füllte sich dann mit einem gleichmäßigen weißen Licht, das den Dingen ihre Farben nahm. Darauf waren Negative befestigt, die er eine Woche zuvor entwickelt hatte. Es war eine Serie menschlicher Venen, in präzise kontrollierten Helligkeitsabstufungen fotografiert. In jedem Bild war der Kontrast etwas anders. Was David daran faszinierte, waren der Grad an Präzision, den er erreicht hatte, und die Tatsache, daß die Bilder nicht mehr an ein menschliches Körperteil erinnerten als etwa an einen Blitz, der sich zur Erde hin verästelt, dunkel bewegte Flüsse oder die gekräuselte Oberfläche eines Sees.
Seine Hände zitterten. Bevor er die Negative abnahm und Pauls Röntgenaufnahmen in die Klammern schob, zwang er sich, mehrmals tief durchzuatmen. Die schmalen Knochen seines Sohnes traten, stabil und zart, mit geisterhafter |204| Klarheit hervor. David fuhr das leuchtende Bild mit seinen Fingerspitzen nach. Sie waren so schön, die Knochen seines kleinen Sohnes. Obwohl sie in natura lichtundurchlässig waren, erschienen sie hier, als wären sie mit Licht gefüllt. Als transluzente Bilder schwebten sie in der Dunkelheit seines Büros.
Es war ein einfacher Bruch: eine klare, geradlinige Fraktur der Elle und der Speiche. Diese Knochen liefen parallel zueinander, und die größte Gefahr war, daß sie während der Heilung zusammenwuchsen.
Er knipste die Deckenbeleuchtung an, und während er durch den Flur zurückging, dachte er an die schöne, versteckte Welt des Körpers. Vor vielen Jahren, in einem Schuhladen in Morgantown, hatte David, während sein Vater Arbeitsschuhe anprobierte und über das Preisschild die Stirn runzelte, auf einer Maschine gestanden, die seine Füße röntgte und seine Zehen dabei in etwas Geisterhaftes, Geheimnisvolles verwandelte. Gespannt hatte er die Stäbe und schattenhaften Beulen verfolgt, die seine Zehen und Fersen sein sollten.
*
Dies war, obwohl er das erst nach Jahren erkennen würde, ein entscheidender Moment für seine Zukunft gewesen. Daß es andere, unsichtbare, unbekannte Welten jenseits aller Vorstellung gab, war für ihn eine Offenbarung gewesen. In den folgenden Wochen hatte David, wenn er fliehendes Wild oder Vögel, die sich in die Luft schwangen, oder flatternde Blätter oder Hasen sah, die plötzlich aus dem Unterholz brachen, genau hingestarrt, um einen Blick auf ihre versteckten Strukturen zu erhaschen. Auch seine Schwester June hatte er so angestarrt, wenn sie, auf ihre ruhige Art Erbsen oder Mais ausschälend, auf der Verandatreppe saß und ihre Lippen sich vor Konzentration öffneten. Sie war wie er und war es nicht, und was sie voneinander unterschied, war ein großes Mysterium.
|205| Seine Schwester, das Mädchen, das den Wind geliebt und das gelacht hatte, wenn ihr die Sonne ins Gesicht schien, und das sich nicht vor Schlangen gefürchtet hatte, war
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