Die Tochter des Magiers
Mouse unwillkürlich
an ihren Vater denken mußte, von dem sie diese Angewohnheit geerbt zu
haben schien.
»Ich bin so unruhig«, lachte sie etwas unsicher. »Schon den
ganzen verdammten Abend über. Mir ist, als spürte ich ständig jemanden
im Nacken.«
»Also, weißt du …« Mouse tätschelte verlegen Oscars
Kopf, der sich an seinem Knie rieb. Er war noch nie ein großer Redner
gewesen und wußte einfach nicht, wie er es ihr sagen sollte. »Du hast
Besuch, Roxy. In der Garderobe.«
»Ach ja?« fragte sie ein wenig unwillig. »Wer denn?«
»Geh und verbeug dich noch mal, Schätzchen.« Lily, Roxannes
Bühnenassistentin und Ersatzmutter, kam herangerauscht. »Das Publikum
ist völlig aus dem Häuschen.« Lily tupfte sich mit einem Taschentuch
die Tränen von ihren falschen Wimpern, die sie nicht nur auf der Bühne
trug. »Max wäre so stolz auf dich.«
Roxanne ließ sich nicht anmerken, wie sehr sie darunter litt,
daß ihr Vater nicht bei ihr sein konnte. Das ging niemanden etwas an.
»Wer ist denn in der Garderobe?« rief sie über die Schulter, als sie
noch mal hinausging, um sich für den anhaltenden Applaus zu bedanken.
Aber Mouse war bereits mit Oscar verschwunden.
Er hatte gelernt, daß es manchmal klüger war, rechtzeitig das
Weite zu suchen.
Zehn Minuten später öffnete Roxanne, vor Freude über ihren
Erfolg glühend, die Tür ihrer Garderobe. Der Duft nach Rosen und
Schminke war eine so vertraute Mischung, daß sie ihn gar nicht mehr
wahrnahm. Aber heute lag noch etwas anderes in der Luft – der
würzige Geruch französischen Tabaks.
Sie kannte nur einen einzigen Mann, den sie für alle Zeit mit
diesem Duft in Verbindung bringen würde. Ihre Hand auf der Türklinke
zitterte.
Er hatte es sich auf einem Stuhl bequem gemacht, rauchte wie
üblich eine dieser schlanken französischen Zigarren und trank dazu
ihren Champagner. Als sie das nur allzu vertraute Grinsen seines
wundervollen Mundes sah und in diese unglaublich blauen Augen blickte,
überlief sie ein gleichzeitig erregendes und bestürzendes Gefühl.
Er trug das Haar immer noch lang und nach hinten gekämmt.
Schon als Kind hatte er mit seiner tiefschwarzen Mähne und diesen
Blicken, die einem heiß und kalt werden ließen, wie ein eleganter
Zigeuner gewirkt. Das Gesicht mit dem Grübchen im Kinn war in den
vergangenen Jahren markanter geworden, was sein gutes Aussehen noch
unterstrich. Abgesehen von der äußerlichen Erscheinung umgab ihn eine
spürbar dramatische Aura.
Er war ein Mann, bei dem Frauen wohlig erschauderten und
unwillkürlich auf allerlei Gedanken kamen.
Ihr war es nicht anders ergangen. O nein, auch ihr nicht. Fünf
Jahre war es her, seit sie dieses Lächeln zuletzt gesehen hatte, seit
ihre Finger in diesem dichten Haar gewühlt, und sie die berauschenden
Küsse dieses Mundes erwidert hatte. Fünf Jahre voller Leid, Trauer und
Haß.
Sie zwang sich, die Tür zu schließen. Warum war er nicht tot?
Warum hatte er nicht irgendeiner der grausamen Tragödien zum Opfer
fallen können, die sie sich für ihn ausgemalt hatte?
Und warum in Gottes Namen empfand sie schon allein bei seinem
Anblick wieder diese schreckliche Sehnsucht? Was sollte sie bloß
dagegen machen?
»Roxanne«, grüßte Luke. Seine Stimme klang vollkommen ruhig.
All die Jahre über hatte er sie beobachtet, hatte heute abend aus den
dunklen Kulissen heraus jede ihrer Bewegungen studiert, kritisch,
abwägend, voller Begehren. Doch als er ihr jetzt gegenüberstand,
erschien sie ihm fast unerträglich schön.
»Eine gute Show mit einem spektakulären Finale.«
»Danke.«
Scheinbar gelassen schenkte er ein Glas Champagner ein und
reichte es ihr. Auch Roxanne war ihre innere Erregung nicht anzumerken.
Schließlich waren beide Profis im Showgeschäft und durch die gleiche
Schule gegangen, damals bei Max. »Das mit Max tut mir leid.«
Ihr Augen wurden hart. »Ach, wirklich?«
Luke ging nicht auf ihren sarkastische Ton ein. Er nickte nur
und betrachtete gedankenverloren den perlenden Inhalt seines Glases.
Plötzlich schien er sich an etwas zu erinnern und schaute lächelnd
wieder auf. »Das Ding in Calais, mit den Rubinen, warst du das?«
Sie trank einen kleinen Schluck und zuckte lässig die
Schultern, wobei die silbernen Sterne auf ihrem Trikot glitzerten.
»Natürlich.«
»Aha.« Offenbar hat sie nichts verlernt, dachte er zufrieden,
weder das Zaubern noch das Stehlen. »Ich habe außerdem Gerüchte gehört,
daß eine Erstausgabe von Poes Untergang des Hauses
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