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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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einen Orgasmus zu arbeiten hätte. Unerfahren, wie sie war, war’s entweder das erste Mal oder nie.
    Sie richtete alle ihre zur Verfügung stehenden inneren Kräfte aus und konzentrierte sich darauf, die in ihr aufsteigende Energie zu identifizieren, zu isolieren und davon wegzurücken. Ihr Bewußtsein schloß sich wie zwei Hände, die eine Drossel fingen, um diese Energie. Sie wurde von einer vollkommenen und universellen Stille ergriffen. Ganz kurze Zeit war sie losgelöst von allen Banden.
    Sie zwang sich dazu - das war der schwerste Teil -, nichts zu erwarten, und öffnete die Augen.
    Sie saß auf einem Hocker an einer belebten Restauranttheke. Überrascht sah ihre Mutter von einer Tasse hellbraunen Kaffees auf. Ein Ellbogen ihrer Mutter streifte einen Aschenbecher und warf ihn von der Theke. Stummel und Asche flogen davon. Köpfe drehten sich herum.
    Jane hielt die flatternde Energiequelle im Bewußtsein gefangen. So also mußte es sich anfühlen, eine Zauberin zu sein! Sie jubilierte, und die Energie erfüllte sie, wie Licht eine Kristallfigurine erfüllt. Doch die Energie wollte frei sein. Sie war ein Vogel, eine Kraft, eine Kugel aus Licht. Mit dem Willen holte Jane die Energie von innen herauf und lenkte sie den Arm hinab. In der Hand kribbelte es. Sie wurde wirklicher, war so fest wie alles andere im Raum.
    Jetzt!
    Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. Die Kaffeetasse machte einen Satz, und Jane schnappte sich das, was daneben lag. Der Mund ihrer Mutter öffnete sich und wollte den Beginn einer Frage formen.
    Ehe jedoch ein Wort hätte gesprochen werden können, floß die Energie aus ihr heraus und verflüchtigte sich. Der Augenblick endete. Das Restaurant und ihre Mutter waren verschwunden. Jane war wieder in Billys Bett zurückgekehrt. Billy lag reglos über ihr. »Ich krieg keine Luft«, sagte sie.
    Langsam wälzte er sich ächzend herab.
    Jane starrte den Löffel in ihrer Hand an.
    Er war da, und er war wirklich. Jane ließ den Daumen darüberlaufen, immer wieder. Er war aus unbeschichtetem Stahl gefertigt. Ein einfacher Strang ausgestanzter Kreise, der von zwei dünnen Linien verbunden wurde, die sich zu Dekorationszwecken um die Ränder des Griffs herum in Schleifen legten. Sie drehte ihn um und las die Inschrift auf der Rückseite:

    IKEA
    stainless
    Made in Korea

    Merkwürdige Runen, für sie völlig ohne Bedeutung. Aber voller Hoffnung. Und das machte Jane wieder zuversichtlich. Alles war möglich. Es waren lediglich Glück und gewisse Kenntnisse erforderlich. Sie könnte sich das Geld für ihren Unterricht beschaffen. Genügend, um sich auch die Befreiung vom Zehent zu erkaufen. Und, wo sie schon dabei war, die Befreiung für Sirin - warum nicht? - sowie die für Puck Aleshire.
    Stimmte schon, ihr Leben war ein völliges Wirrwarr, aber es ließe sich in Ordnung bringen. Das erforderte lediglich Geld. Geld konnte alles in Ordnung bringen, wenn man genug davon hatte.
    Sie wußte, wo sie dieses Geld herbekäme, hatte jedoch bis zu diesem Abend nicht den Nerv für einen Versuch gehabt. Jetzt hatte sie sich bewährt. Es war an der Zeit.
    »Wow«, sagte Billy.
    »Oh, halt den Mund.«

17

    Für die Anfertigung einer Hand of Glory, einer magischen Kerze, benötigte man zuallererst die Hand einer Leiche, die gewaltsam zu Tode gekommen war. Der Schock des jähen Todes war notwendig, weil dadurch das Gewebe mit Endorphinen überflutet wurde, und Endorphine waren wesentlich für die Macht des Zauberspruchs. Glücklicherweise hatte Jane Zugang zum Leichenschauhaus der Anatomie. Sie schmuggelte die Hand in ihrer Handtasche hinaus und legte sie in einer Lösung aus Kochsalz und Salpeter ein. Das Gefäß stellte sie hinten in ihren Kleiderschrank. Die Hand in der Sonne zu trocknen hätte Wochen benötigt, also schockgefror sie sie und sublimierte das Eis in einem Vakuumbehälter.
    Von der Stadt draußen vor dem Fenster strahlte ein helles hartes und kaltes Licht in das Labor. Die letzten bleichen Leuchtfeuer eines erloschenen Sonnenuntergangs flackerten am Horizont. Jane saß im Schneidersitz auf einem hohen Hocker und zurrte Kerzenstummel zwischen den Fingern der Hand fest. Aus Angst vor einer Entdeckung hatte sie die Lampen nicht eingeschaltet. Aber im vorhandenen Licht sah sie, daß die Hand grob und ihr ehemaliger Besitzer ein Nägelkauer gewesen war.
    Die Stunde vor der Morgendämmerung war die beste Zeit für eine solche Arbeit, denn die Einflüsse von Sonne und Mond waren dann annähernd gleich und

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