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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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ausgeschlossen neben ihrem Stromkreis aus Haß und Begehren.
    Ein Schatten strich ihr vor den Augen entlang.
    Eine Hand berührte sie sanft an der Schulter.
    »Komm«, sagte der Schattenjunge. »Du kannst nichts für ihn tun, und du weißt das.«

    Der Schattenjunge führte Jane von der erstarrten Szene weg. Sie gingen, ohne daran gehindert zu werden, durch den falschen orientalischen Glanz des vorderen Raums zur Tür hinaus.
    Wie unter einem Bann schritten sie durch die Straßen der Stadt. Zweimal stießen sie auf wilde und blutige Überreste des Mobs, der Trophäen bei sich trug, die Jane auf keinen Fall sehen wollte. Jedesmal führte sie der Schattenjunge unbehelligt davon. So lange er sie an der Hand hielt, konnte man sie anscheinend nicht entdecken.
    Eine Seitentür ins Bellegarde öffnete sich auf eine Berührung des Schattenjungen hin. Sie riefen einen Aufzug herab, der groß genug war, um einhundert Leute zu tragen, und fuhren allein darin bis ganz nach oben. Ihr Führer hatte Jane auf ihr Zimmer bringen wollen, aber sie bestand darauf, statt dessen zum Aufenthaltsraum der Studenten zu gehen. »Dort wird bestimmt alles okay sein«, versicherte er ihr. »Die Verwaltung hat die Leichen bereits entfernt. In so was sind sie ziemlich gut.«
    »Nein.«
    Der Aufenthaltsraum war leer. Jane kehrte den Fenstern den Rücken zu und blickte über die Sofas. Jedes davon würde sich als Bett eignen. Ansonsten könnte sie auch auf dem Boden schlafen.
    »Ich muß jetzt gehen. Wenn ich nicht bald in der Fabrik zurück bin, na ja ...« Der Schattenjunge hob traurig die Schultern.
    »Ja, natürlich, die Fabrik.« Jane ließ seinen Arm nicht los.
    »Ich muß gehen«, wiederholte er.
    »Wer bist du?«
    Es erfolgte keine Antwort.
    »Dann muß ich es dir wohl sagen.«
    »Nein«, flüsterte er, »tu’s nicht.«
    Jane hatte etwas Schreckliches vor. Aber sie war betrunken und aufgedreht, am Boden zerstört, alles tat ihr weh, und sie gab keinen Scheißdreck mehr um irgend etwas. Sie schlang die Arme um seine dünne Gestalt. Er leistete keinen Widerstand. Er war so kalt und klein. Sie stellte mit Verwunderung fest, wie sehr sie gewachsen war, seitdem sie die Drachenwerke verlassen hatte. Er sah ihr verzweifelt in die Augen und zitterte. Jane senkte den Kopf und flüsterte ihm ihren eigenen Namen ins Ohr.
    »Ich hab alles getan, was ich konnte«, wimmerte er.
    »Ich auch. Es war nicht genug, stimmt’s?«
    Er zitterte jetzt heftig und gab keine Antwort.
    »Wenn du ein Hippogryph in Gefangenschaft halten willst, so stutze ihm die Schwungfedern. Einem Faun zertrenne die Sehnen eines Beins. Wie jedoch verkrüppelt man eine Sterbliche, ohne ihren Wert als Arbeiterin zu mindern?«
    »Bitte ... tu’s nicht!« Der Schattenjunge wand sich schwach in ihrer Umarmung.
    »Pscht.« Jane senkte den Mund auf den seinen hinab. Sie schob ihm die Zunge zwischen Lippen, die keinen Widerstand leisteten, und öffnete sie. Dann saugte sie seine Zunge in ihren Mund. Sie saugte mehr von ihm in sich hinein und noch mehr. Sie saugte weiter, bis nichts mehr übrig war.
    Als sie aufblickte, drang eine schwache Helligkeit in den Aufenthaltsraum. Die Sonne ging auf.
    Der Zehent war vorüber.

19

    Erst am späten Nachmittag brachte Jane es fertig, sich mühsam vom Sofa zu erheben. Sie trug noch immer die Kleider vom gestrigen Tag. Sie stanken ziemlich, jedoch nicht so widerlich wie sie selbst. Der Himmel draußen war grau, und die Atmosphäre hier drin bedrückend. Sie hatte Kopfschmerzen. Ein krustiges Gefühl hatte sich in der Kehle festgesetzt, und sie hatte Durchfall. Zur Krönung des Ganzen hatte sie einen Kater.
    Sie brauchte eine Dusche und frische Kleider. Inzwischen hatte man Monkeys und Ratsnickles Leichen bestimmt aus ihrem Zimmer entfernt. Da hatte der Schattenjunge recht gehabt. In solchen Sachen war die Verwaltung gut.
    Mehrmals rollte sie den Kopf im Kreis und horchte, wie die Rückenwirbel knackten. Dann kratzte sie sich pflichtschuldig mit einem Fingernagel den gröbsten Dreck von den Zähnen.
    Dann sah sie auf die Uhr.
    »Oh, Scheiße!«
    Sie würden jetzt jede Minute die Listen aushängen.

    Sirins Leichnam hatte man in der Watling-Street in der Nähe von Cae Gwydion gefunden. Jemand hatte sie aus einem hochliegenden Fenster geworfen. Laut Untersuchungsbericht hatten die Lords der Universität für eine positive Identifizierung ihre Dentalaufzeichnungen benötigt.
    Die Listen wurden in verschlossenen Glaskästen in New Regents Hall ausgehängt.

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