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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Dort sah auch Jane zusammen mit vielen Überlebenden zu, wie die Kästen aufgebaut wurden. Ihr Haar war noch immer feucht - sie hatte über eine halbe Stunde unter der Dusche verbracht -, und in ihrem Kopf pochte es. Sie ging die Listen sorgfältig durch und suchte nach Freunden und Kommilitonen. Es benötigte Zeit; denn nach bürokratischer Gepflogenheit listete man die Opfer in der Reihenfolge ihrer Entdeckung auf.

Sirin.
    Monkey.
    Ratsnickle.

    Es war eine bedächtige, fast erotische Isolation in dieser Erfahrung. Jane ließ die Hand über das Glas laufen, kroch die Listen zentimeterweise hinab und las genau und gründlich jeden Namen. Alle anderen um sie herum taten das gleiche. Keiner sprach. Keine Blicke begegneten einander. Keiner gab sich die Mühe, Kontakt herzustellen.
    New Regents war ein riesiger Raum mit Tonnengewölbe und wurde indirekt beleuchtet durch verborgene Fenstergeschosse. Die Walnußtäfelung sorgte dafür, daß er fast wie etwas Natürliches anmutete, als wäre Jane lediglich ein Insekt, das über den Boden eines ausgehöhlten Holzklotzes krabbelte. Doch vorherrschend war gähnende Leere. Traurig wenige Studenten waren über die Halle verstreut, und die Universität wirkte regelrecht entvölkert.
    Ein Zwerg in dreiteiligem Anzug und Basiliskschuhen las rasch die Listen durch, ging mit brüsker Geschäftigkeit von Kasten zu Kasten. Es war - Jane versuchte sich zu erinnern - Nants Freund, dem sie in jener längst vergangenen Nacht begegnet war, als sie sich und Sirin Galiagante zum erstenmal getroffen hatten. Red Gwalch, das war sein Name. Sie fragte sich, ob sie ihn grüßen sollte. Dann jedoch brach er in Tränen aus und wandte sich ab, wobei er sich einen Arm über die Augen schlug. Also dachte sie, daß es vielleicht besser wäre, es nicht zu tun.

Nant.
    Skambles.
    Martha Falsestep.
    Jimmy Jump-up.
    Loosestrife.
    Vinegar Dick.

    Die meisten auf den Listen waren ihr fremd. Andere kannte sie nur vom Hörensagen und vom Ruf her. Überall in der Halle standen die Studenten über den Listen. Alle hatten verschwollene Augen und wirkten wie betäubt. Einige bewegten beim Lesen die Lippen. Gelegentlich schluchzte jemand los. Ein anderer lachte jäh und ungläubig auf. Niemand sprach ein Wort. Sie alle hatten alle ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Niemand würde sie erzählen.

Linnet.
    Bargues Summerduck.
    Itch.
    The Cauld Lad.
    Puck Aleshire.

    Da! Ihr schlug einmal dumpf das Herz, als wäre es von einem Ziegelstein getroffen worden. Dann nichts. Sie verspürte überhaupt nichts mehr. Nur das schreckliche graue Gefühl, daß sie eigentlich etwas empfinden sollte.
    Da entdeckte Jane, daß sie in sich keine Tränen zum Vergießen hatte. Sie kam sich wie ein Ungeheuer vor, doch es war so. Ein Hogboon scharrte bedeutungsvoll mit den Füßen, und sie ging zum nächsten Kasten. Automatisch las sie weiter. Puck wäre Wicked Tom niemals begegnet, wenn er sie nicht gesucht hätte. Er hatte sein Leben ihretwegen weggeworfen. Und er war gestorben, ohne auch nur zu wissen, was sie für ihn empfand. Es war unverständlich, daß sie nicht um ihn trauern konnte.

Punch.
    Lampblack.
    Billy Bugaboo.
    The Widdler.

    Sie hielt inne. Was hatte sie da gerade gelesen? Sie ging die Liste zurück und fand den Eintrag wieder. Sie starrte ihn ungläubig an.
    Billy Bugaboo war tot. Laut Untersuchungsbericht hatte er eine Gruppe des Mobs - unmöglich zu glauben! - bei einem Angriff gegen die Börsenmaklergilde angeführt und war von der Kugel einer Grünjacke niedergestreckt geworden. Ein Sternchen und ein Dolch am Ende des Zitats bedeutete, daß ihm, da er heldenhaft gestorben war, postum eine Auszeichnung verliehen würde.
    Weil es ihr nicht einmal in den Sinn gekommen war, daß Billy tot sein mochte, löste der Schock, seinen Namen zu sehen, eine Erstarrung im Innern. Wie bei einem Fluß, der einen Damm durchbricht, quollen die Tränen heraus und überwältigten sie. Sie liefen ihr in Strömen die Wangen herab.
    Jane warf den Kopf zurück und heulte vor Elend.
    Sie weinte aus Schuldgefühlen, weil sie ihre Freunde so schlecht behandelt hatte, und sie weinte über den Verlust. Sie weinte über das schiere Grauen des Lebens. Sie weinte zunächst wegen Billy Bugaboo und des größeren Schmerzes um Puck. Aber irgendwie mengten sich Sirin und Monkey ebenfalls hinein. Und auch der Schattenjunge, obgleich sie vom Verstand her wußte, daß er lediglich ein Aspekt ihrer selbst gewesen war. Sie weinte um alle, um die

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