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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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zerrissen, taumelte Rockets Drache davon.
    Jane konnte nicht hinsehen. Sie weinte vor Wut.
    Tötet die Hure, dachte sie verzweifelt. Wild hoben sich ringsumher die Stacheln. Es waren Hunderte davon, die sich wie Tornados drehten. Wenn ich sterben muß, sollen dies meine letzten Worte, soll dies mein letzter Gedanke sein. Tötet die Hure! Ihr raste das Herz. Tötet die Hure tötet die Hure tötet die Hure tötet die Hure! Die Worte liefen in ihrem Bewußtsein zusammen, wurden zu einem Schrei, einem Mantra, einem hysterischen Gebet, einer letzten grollenden Anerkennung der Macht der Göttin.
    Das Spiralschloß wurde immer größer, und kalkweiße Mauern nahmen einen immer größeren Raum in ihrem Blickfeld ein. Jane kam sich vor wie eine Mücke, die einen Kontinent angreift. Melanchthon lachte - lachte! -, während sie aus allen Rohren feuernd anflogen. Er war die reine Verkörperung von Wahnsinn und Zerstörung. Der eiserne Korpus des Drachen zuckte spasmisch, als er immer zwei Raketen auf einmal abfeuerte. Ich bin der zerschmetternde Stein, dachte Jane. Ich bin der Pfeil im Flug. Es waren ihre eigenen Gedanken, jedoch schmeckten sie wie die Gedanken des Drachen. Die Kabine heizte sich auf, Schweiß tropfte Jane das Gesicht herab, strömte ihr aus den Achselhöhlen und an den Seiten hinunter, wo ihr Körper bereits naß war und juckte. Was sollte es, verdammt noch mal! Dazu war sie in den öden Jahren des Exils von den Himmeln geboren, gebaut, entworfen worden, um dies zu vollenden.
    Dies war der Tod von allem.

    Aber während das Spiralschloß weiterhin anschwoll und das Universum erfüllte und der Ozean unter ihnen merkwürdig still wurde, geschah etwas mit dem Drachen.
    Es begann mit einer nachlassenden Empfindlichkeit an den Flügelspitzen und breitete sich rasch aus. Säulen alphanumerischer Anzeigen sanken auf Null. Seine Extremitäten wurden taub. Jegliches Gefühl auf der Haut war verlorengegangen. Zustandsdaten in großer Zahl verflachten. Fetzen weißen Dunstes verdeckten den Quantenozean unter ihnen. Sie flogen durch eine lauwarme, oxidierende, milchige Substanz. Korrodierte Stellen wucherten auf der Außenhülle des Drachen. Löcher entstanden auf der Haut.
    Die Atmosphäre fraß Melanchthon von außen her auf.
    »Was geht da vor?« rief Jane. »Was geht da vor?«
    Die Kontrollen reagierten nicht.
    »Pein und Verrat!« heulte der Drache. »Verdammnis, Tod und Höllenqual, sage ich - verdammt seien die Elfen, verdammt die Tegs, verdammt die Zwerge und Kobolde, die Nimbles und Grims. Verdammt seien alle in jedem Rang und Grad. Ich richte das Auge des Todes auf sie. Ich rufe auf sie herab das Wort des Zorns. Ich verfluche sie alle mit dem Schrei der Schuld. Verdammt seien sie und alle ihre Herren und Mächtigen, Meister und Stammesmütter!«
    »Was kann ich tun? Sag mir, was ich tun soll!«
    Große Stücke aus der Substanz des Drachen rissen ab. Jane war wie betäubt von dem schrecklichen Kratzgeräusch, mit dem Metall entzweigerissen wurde. Ein Motor explodierte und fiel ab. Sie wurde hierhin und dorthin geschleudert. Der größte Teil des Drachen war auseinandergebrochen, und was noch übrig war, schmolz dahin, und noch immer raste er, raste gegen die Göttin, gegen das Leben, gegen die Tatsache der Existenz selbst.
    »Sag’s mir!«
    Melanchthons Stimme erhob sich zu einem wortlosen Geheul, als er sich ins Nichts auflöste.
    »Tut mir leid«, sagte Jane ruhig. »Tut mir leid, daß es so enden mußte.«
    Dem Drachen waren keine Worte mehr geblieben. Seine Sprechsysteme waren zerstört. Aber die Empathie zwischen ihm und Jane war groß genug, daß sie noch das Gefühl entziffern konnte, das seinen Todesschrei modulierte. Es war die Befriedigung darüber, daß sie ebenfalls sterben würde. Und das Bedauern, daß sie rasch sterben würde.
    Das war der letzte Schrei, den er ausstieß. Er erstarb jäh, wurde rasend schnell zu einem Wimmern und dann zum Schweigen.
    Der Drache war nicht mehr.
    Für den kürzesten aller Augenblicke schwebte Jane ohne ihn weiter. Die Trägheit trug sie mit unverminderter Geschwindigkeit durch das lauwarme Weiß. Ihr Ziel wurde unermeßlich groß, ohne dabei überhaupt näher zu kommen; möglich, daß sie auf ewig weiterflöge und es niemals erreichte. Jane verblieb gerade genügend Zeit, um sich darüber klarzuwerden, daß sie niemals auch nur die Spur einer Chance gehabt hatten, daß das Spiralschloß aufgrund seiner ureigensten Natur gegen die allergrößten Anstrengungen von

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