Arglist: Roman (German Edition)
1
Vor fünfundzwanzig Jahren belächelte man sie als Nerds.
Heute bestaunte man sie als Milliardäre.
Doch sogar unter den Außenseitern gehörte Genoa Greeves zu denjenigen, die ungewöhnlich viel zu leiden hatten. Belastet mit ihrem seltsamen Vornamen – die Schwärmerei ihrer Eltern für bella Italia brachte noch zwei weitere Kinder hervor, Pisa und Roma – und ihrer linkischen Art, sonderte sich Genoa ihre ganze Jugend über ab. Sie antwortete zwar, wenn man sie ansprach, aber das war auch schon ihre gesamte soziale Interaktion. Die Teenagerzeit verbrachte sie in ihrem selbst gewählten Exil. Sogar die seltsamsten Mädchen wollten nichts mit ihr zu tun haben, und die Jungs taten so, als hätte sie die Pest. Sie lebte wie auf ihrer eigenen einsamen Insel, ganz und gar allein.
Natürlich waren ihre Eltern wegen ihrer Außenseiterrolle alarmiert. Sie ließen eine schier endlose Parade von Psychologen an ihr vorbeimarschieren, die variantenreiche Diagnosen lieferten: Depression, Angststörung, Asperger-Syndrom, Autismus, schizophrene Persönlichkeitsstörung, gerne auch alles zusammen in Kommorbidität. Man verschrieb Medikamente sowie fünfmal in der Woche Psychotherapie. Die Psychologen gaben die richtigen Ratschläge, aber sie konnten die Situation in der Schule nicht beeinflussen. Keine der zahlreichen Übungen zur Stärkung des eigenen Ichs und des Selbstwertgefühls neutralisierte die Schwere des Eindrucks, so grundsätzlich anders zu sein. Mit sechzehn Jahren fiel Genoa in eine schwere Depression. Die Medikamente wirkten zum ersten Mal nicht mehr. Genoa war felsenfest davon überzeugt, dass man sie in eine Anstalt eingewiesen hätte, wären nicht – völlig unabhängig voneinander – zwei Dinge passiert.
Als Vertreterin des weiblichen Geschlechts hatte Genoa weder jemals die Waffen einer Frau besessen noch irgendwelche Attribute, die sie zu einem begehrenswerten Sexualobjekt gekürt hätten. Aber auch wenn sie ohne die passenden fraulichen Qualitäten geboren wurde, so hatte Genoa doch wenigstens das ganz erhebliche Glück, zum passenden Zeitpunkt auf die Welt gekommen zu sein.
Im Computerzeitalter.
Hochtechnologie und Heimcomputer erwiesen sich als Genoas vom Himmel gewährtes Manna: Speicherchips und Hauptplatinen waren ihre einzigen Freunde. Wenn sie sich mit einem Computer unterhielt – zuerst nur mit Großrechnern, auf die schon bald die allgegenwärtigen Desktops folgten -, dann hatte sie wenigstens das Gefühl, dass sie und dieses leblose Objekt eine Sprache sprachen, die nur einige wenige Eingeweihte wirklich beherrschten. Die Technik winkte ihr zu, und sie folgte dieser Einladung wie dem Ruf einer Sirene. Ihr Verstand, der sie einst immer verraten hatte, wurde zu einem höchst willkommenen Anlagegut.
Was ihren Körper betraf, nun ja, wer im Silicon Valley kümmerte sich um sein Aussehen? Die Welt, in der Genoa von nun an lebte, war eine Welt voller Ideen und Konzepte, voller Bytes und Megabytes, und vor allem voller Geniali-tät. Jeder Körper war nicht mehr als ein Skelett, das dieser großartigen Denkmaschine oberhalb des Halses diente.
Doch allein als Wegbereiter im Computerzeitalter mitzuspielen, garantierte noch lange keinen Erfolg. Und der hätte um Genoa sicher einen Bogen gemacht, wäre da nicht ein Individuum gewesen – außer ihren Eltern -, das an sie glaubte.
Dr. Ben – Bennett Alston Little – war der coolste Lehrer an der Highschool. Er unterrichtete Geschichte mit einem Hang zu Politikwissenschaften, aber er war so viel mehr gewesen als nur Erzieher, Vertrauenslehrer und stellvertretender Schulleiter. Gut aussehend, groß und sportlich, ließ sein Anblick die Mädchen reihenweise in Ohnmacht fallen, während die Jungs ihn respektierten, weil er hart aber gerecht war. Er wusste über alles und jeden Bescheid und wurde ausnahmslos von jedem Einzelnen seiner insgesamt zweitausendfünfhundert Schüler geliebt. All das war schön und gut, bedeutete aber rein gar nichts für Genoa – bis zu diesem denkwürdigen Tag, als sie im Flur an ihm vorbeiging.
Er hatte sie freundlich angelächelt und gesagt: »Hallo, Genoa, wie geht’s dir?«
Sie war so geschockt, dass sie nicht antwortete, mit hochrotem Kopf davonlief und nur einen Gedanken denken konnte: Warum kennt Dr. Ben meinen Namen?
Als sie ihm zum zweiten Mal im Flur begegnete, grüßte sie immer noch nicht zurück, lief aber wenigstens nicht gleich davon. Sie fiel mehr oder weniger in einen schnellen Schritt, der
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