Die Tochter des stählernen Drachen
mehrere Treppenfluchten hinab. Das einzige Geräusch verursachten dahinjagende klickende Absätze und scharrende Sohlen. Die Graffiti auf den schmutzigen Steinmauern sahen sehr merkwürdig aus. Jane konnte sie nicht lesen. Von allen Seiten drückten sie Mäntel und Umhängetaschen.
Die Treppe machte eine Kehre und trieb sie durch eine Reihe von verchromten Drehkreuzen, die die Menge wie Wolle krempelten. Aus den Schlünden der dunklen Gänge dahinter stieg ein Gebrüll wie von großen Maschinen oder von Flüssen auf, die in bodenlose Abgründe hinabstürzten. Auf der anderen Seite führten die Stufen zu einem dämmrigen Platz hinab. Die Menge zerstreute sich, um den größeren Raum zu füllen, wurde jedoch nicht langsamer. Alle hatten es eilig, waren still und in die eigenen Gedanken versunken. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte der Baldwynn. Jane nickte.
Weiter vorn sah sie eine helle Lichtpfütze. Die Menge strömte und wirbelte darum herum, ohne langsamer zu werden. Beim Näherkommen sah Jane, daß ein Kind dort stand, ein Mädchen mit roten Rosen im Haar. Die Haut des Mädchens war heller als Marmor, ausgebleicht und blutleer. Seine Züge waren erlesen und fein und zeigten keinerlei Anzeichen von Schwäche. Es sah zu Jane auf, und die Augen waren vom gleichen harten Weiß wie die Haut, das Kleid, das Haar. »Du!« rief es.
»Ich?« Jane blieb verwirrt stehen. Kein Mensch schenkte dem außergewöhnlichen Wesen die leiseste Beachtung. Die Menge eilte vorüber.
»Du bist so dumm!« rief das kleine Mädchen. »Wie kannst du nur so dumm sein?«
»Ich ...«
»Du hast nicht das geringste verstanden, stimmt’s?« Es packte Janes Fliegerjacke und durchwühlte die Taschen eine nach der anderen. »Was bist du für eine Idiotin, was für ein hoffnungsloser Fall! Du warst der Grund für Roosters Verletzungen - warum hast du so in Bluggs Büro herumgetrödelt? Du hast Gwen und Peter fertiggemacht, als du ihnen nach meinem Willen eigentlich Trost spenden solltest. Du bist nicht einmal mit Puck ins Bett gegangen! Du - ich habe nicht die Zeit, deine Fehler und Treulosigkeiten aufzuzählen. Wo sind die Sachen, die ich dir geliehen habe?«
»Welche Sachen?« Jane versuchte zurückzuweichen, aber da war das Mädchen wie eine kleine Furie über ihr. Es riß Janes Bluse auf, steckte eine Hand hinein und zog einen kleinen ledernen Fetischbeutel heraus. Jane hatte nicht gewußt, daß sie ihn bei sich getragen hatte. Das Mädchen schüttete sich den Inhalt des Beutels auf die Hand: ein mumifiziertes Objekt, etwa doppelt so lang und dick wie eine Kaninchenpfote, sowie einen kleinen hellen Lichtschimmer.
Jane starrte darauf. Ihr raste das Herz. Obgleich sie diese Sachen nie zuvor im Leben gesehen hatte, waren ihr die beiden Objekte jetzt das Kostbarste im Universum.
»Du hast sie vergeudet!« Das kleine Mädchen hielt den Lichtschimmer zwischen Daumen und Zeigefinger, und Jane sah, was es war: eine Nadel. Das Mädchen warf sie in den Beutel zurück, dann hielt es das größere Objekt hoch. Es war mit kurzem drahtigen Haar bedeckt: ein amputierter Hundeschwanz. Es biß wütend die Zähne aufeinander. »Ich wette, du weißt nicht einmal, wofür sie sind!«
Der Hundeschwanz folgte der Nadel. Entsetzlich weiße Finger schlossen sich um den Beutel und bildeten eine Faust. »Du Schwächling! Du Närrin! Du eingebildete, egoistische, selbstgefällige Ziege!« Bei jedem Wort schlug das Mädchen Jane auf die Brust. Bei jedem Schlag raschelten die blutroten Rosen. Schließlich kehrte ihr das Kind höhnisch grinsend den Rücken zu. Die Menge umschloß es, und als sie sich wieder öffnete, war es verschwunden.
Jane blinzelte. Sie knöpfte sich die Bluse wieder zu. Dann zog sie den Reißverschluß ihrer Jacke hoch. Sie stand an einer Kreuzung. Weit und verschwommen erstreckte sich der Platz in alle Richtungen.
In jäher Panik merkte sie, daß der Baldwynn nirgendwo zu sehen war.
Ihr Führer war verschwunden.
In einem grauen Schleier der Verzweiflung wanderte Jane an Schildern entlang wie Bar-B-Q Beef, Discount Vitamine, Deli-Sandwiches, Schuhreparatur, Dollar Expres$, Juwelier und Chinesischer Fast-Wok. Sie dachte: Das war’s dann wohl. Eine ziellose Wanderung durch die Ewigkeit. Ein einzigartig fades Schicksal und dennoch ein Schicksal, das merkwürdig angemessen erschien.
Bei diesem Gedanken warf sie jedoch zufällig einen Blick in ein Restaurant und sah den Baldwynn an der Theke sitzen. Er aß ein mit Puderzucker bestreutes
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