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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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wird, sich zu fürchten. Und dann ... es wird großartig sein.«
    »Wie dem auch sei, ich sehe nicht, daß du dir all diese Zahlen in nur fünf Tagen einprägen kannst. Das müssen sieben Seiten sein!«
    »Ich krieg’s hin«, sagte er grimmig.
    Er saß stirnrunzelnd über den Zahlen. Sein Gesicht wurde von dem silbrigen Runenlicht nur schwach erleuchtet und war fast unsichtbar. Jane wußte, wie schwer sein Vorhaben sein konnte. Sie hatte den eigenen Ehrgeiz, ihren Drachen völlig zu beherrschen, heruntergeschraubt und wollte nur noch mehrere Schlüsselfunktionen seines optischen Systems sowie des Prozessorsystems beherrschen. »Ich glaube, du kannst noch nicht mal die Zeichen lesen.«
    »Sicher kann ich das.«
    »Was ist denn das da für eins?« Sie stach mit dem Finger auf die Runen, die 3,2 Ohm bedeuteten.
    »Sieh mal, ich brauche die Schnörkel nicht zu verstehen , um sie mir einzuprägen. Ebenso wie du erkenne ich genau, wie sie aussehen. Ich präge sie mir lediglich als Bilder ein.«
    Es war eine unmögliche Aufgabe, die sich Rooster gestellt hatte. Jane ließ ihn dort sitzen und ging wieder zu Bett. Sie war dankbar für die Möglichkeit, etwas Schlaf zu bekommen, und sicher, daß Rooster nach einem anstrengenden Tag aufgeben würde, bestenfalls nach zwei Tagen. Wenn er aufgab, könnte sie zu ihren Studien zurückkehren.
    Aber er gab nicht auf. In jener Nacht, in der nächsten Nacht sowie in den drei darauffolgenden Nächten kroch Rooster in die Mauer und blieb bis zur Morgendämmerung dort, um mit dem Zauberbuch zu sprechen. Jane ärgerte sich, über die Zeit, die er dort verbrachte. Es war schließlich ihr Buch, und es verlangte sie dringend danach. Alle ihre Bemerkungen, zaghaften Andeutungen und schließlich ihre nachdrückliche Forderung, sie sollten sich nachts beim Studium des Zauberbuchs abwechseln, tat Rooster jedoch mit einem Schulterzucken ab.
    Mit ihm war nicht zu reden. Rooster war besessen.

    In der Nacht vor der geplanten Inspektion mußten die Kinder in Reih und Glied vor dem Badezimmer antreten und in die Wanne steigen, obgleich es erst mitten in der Woche war. Eines nach dem anderen wurde hereingerufen. Dimity überwachte die Mädchen und schwang eine kratzige Bürste, damit auch ja keine Stelle übersehen wurde, während Blugg mit aufrichtiger Belustigung zuschaute.
    Die Bürste wurde mit besonderer Heftigkeit geschwungen, als Jane im Zinktrog an der Reihe war. Dimity wollte Blugg anscheinend etwas zeigen, etwas, das Jane nicht verstand. »Zieh die Kleider aus, du Schlampe!« rief sie. »Aber mal ’n bißchen plötzlich!«
    Jane sah betont von Blugg weg, als sie sich auszog und linkisch in den Trog kletterte. Sie hatte sich größtenteils von den Schlägen erholt, doch die Prellungen waren noch immer vorhanden, gelb und schwarz um purpurrote Wolken, wie schlechtes Wetter dicht unter der Haut. Das Wasser war noch immer warm, und dünne ölige Streifen von Seife trieben auf der grauen Oberfläche.
    »Du hast dich vollgeschissen, du Schwein!«
    »Habe ich nicht!« rief Jane unwillkürlich.
    »So? Und was ist das da?« Dimity fuhr Jane mit der Scheuerbürste zwischen die Beine und scheuerte mit harten raschen Strichen, die Jane die Tränen in die Augen trieben. »Ist überall an deiner Arschspalte.« Jane bespritzte sie und wich zurück, und Dimity folgte ihr zum anderen Ende des Trogs, wobei sie ihr das Hinterteil mit den scharfen Nylonborsten schrubbte.
    »Hier!« Sie warf Jane einen schmutzigen Waschlappen ins Gesicht. »Wisch dir das Gesicht ab. Es ist dreckig.«
    Als Jane angezogen wurde, schaute sie furchtsam auf und sah einen merkwürdigen Blick, der zwischen Dimity und Blugg hin- und herging, ein rätselhafter und sogar verschwörerischer Blick, beladen mit einer schrecklichen Bedeutung.

    Ein krankhaftes Lächeln glitt Rooster beim Frühstück übers Gesicht. Seine Finger zitterten leicht, und sein zerstreuter Blick schoß hierhin und dorthin. Seitdem er nachts in die Mauer kroch, war sein Gesicht noch blasser und abgespannter geworden; eine ständige Erschöpfung klebte jetzt an ihm. Aber an diesem Morgen lag eine unnatürliche Energie unter seiner Erschöpfung, wie ein elektrischer Strom, der seine Muskeln zu spasmischen Zuckungen veranlaßte.
    »Rooster?« fragte Jane ruhig. Niemandem sonst fiel sein Zustand auf. Alle anderen waren beschäftigt mit dem bevorstehenden Besuch des Generalinspektors. »Du mußt kein mieses Gefühl haben, wenn die Dinge nicht ...« Sie brachte es nicht

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