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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Schweigen war eine kleinliche Rache - er würde zu ihrem Nutzen handeln, ihre Existenz jedoch ansonsten in keiner Weise anerkennen. Dann wiederum waren Drachen hintergründig. Vielleicht versuchte er, sie so weit zu bringen, daß sie sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen ließ. Vielleicht hatte er ja irgendeinen umfassenden Plan ersonnen, und sie käme dadurch in eine Situation, wo sie aus Furcht, ihm zu vertrauen, so handelte, wie er es von ihr im Sinne dieses Plans verlangte. Vielleicht manipulierte er sie so, daß jede ihrer Bewegungen, jeder Gedanke und jedes Gefühl den Drehungen und Windungen eines verwirrenden Labyrinths von solcher Größe folgte, daß sie es noch nicht einmal sehen konnte.
    Vielleicht war er senil geworden.

    Die Schule war in konzentrischen Kreisen des Entsetzens um das Büro des Direktors herum aufgebaut. Die schlimmsten pädagogischen Ungeheuer schlichen in Furcht vor jenem Raum umher, dessen Tür stets verschlossen war und aus dem in unregelmäßigen Abständen die qualvollen Schreie des dort gefangenen Entsetzens tönten.
    Das Büro der Sekretärin befand sich unmittelbar neben dem Büro des Direktors. Sie hörte mit funkelnden Augen zu, während der Schulaufseher Strawwe Bericht erstattete. Bei jedem Wort pustete Grunt sich erneut empört auf. Jane konnte es kaum ertragen, und sie hatte riesige Angst.
    Strawwe beendete seinen Bericht.
    »Nun!« Die Sekretärin steckte ein knochiges Knie unter den Arm und stellte sich auf ein Bein. »In all den Jahren, die ich hier bin, ist das die empörendste und schamloseste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Hat hier noch irgend jemand daran Zweifel, daß sie bestraft werden muß?«
    Sie sah zu Grunt hinüber. Er räusperte sich und schaute weg. Sie sah Strawwe an. Er begegnete ihrem Blick. »Sehr schön«, sagte sie schließlich. »Werft dieses erbärmliche Kind dem Basilisken vor!«
    Mit abgewandten Blicken zogen Grunt und Strawwe Jane hinaus auf den Flur. Sie rissen die Tür zu dem entsetzlichen Büro auf und stießen Jane hinein. Die Tür schlug hinter ihr zu. Sie sah auf und erblickte die Kreatur des Rektors, die sich über einer mit grünen Klecksen beschmierten Kladde putzte.
    Der Basilisk klammerte sich mit klauengleichen Fingern an die Schreibtischkante. Er war ein federloser Zweifüßler, bleich wie Hühnerfleisch, hatte einen langen Hals und kleine Anhängsel, die eher Stümpfe als Flügel waren. Der runde Kolben seines Bauchs war festgespannt wie eine Trommel, während der übrige Körper schwabbelig wie geschlachtetes Fleisch war.
    Aber es war das Gesicht der Kreatur, das Furcht erweckte. Es war augenlos, jedoch durchaus nicht kopflos. Winzige menschliche Ohren rahmten gewaltige weiche Lippen mit schleimig glitzernder Oberfläche ein. Es hatte keine Nase, so daß jeder Atemzug ein nasses schmerzhaftes Keuchen war.
    Beim Anblick dieses Grauens stellte sich Jane unwillkürlich vor, wie es wäre, in solchem Fleisch gefangen zu sein. Es wäre ein Schicksal, das noch abstoßender wäre als die Kreatur selbst. Sie wollte wegsehen und konnte es nicht.
    Der Basilisk schlug mit den Stummelflügeln.
    Plötzlich streckte er den bleichen Hals vor und zog die breiten gummiartigen Lippen zurück, wodurch er gleichmäßige weiße Zähne und eine feuchte rosafarbene Zunge enthüllte. Jane zuckte vor dem blinden Schrei zurück.
    Alles wurde leer. Einen zeitlosen, luftlosen Augenblick lang stand sie im Nirgendwo, dimensionslos, ohne Gedanken. Im Zustand des vollkommenen Nichtseins. Dann stolperte sie und fand sich im Büro des Direktors wieder. Sie starrte entsetzt den Basilisken an, dessen speichelfeuchter Mund sich gerade schloß.
    Sie hatte den letzten Bruchteil des schwarzen Schreis nicht gehört, dennoch hallte seine Wirkung in ihr wider. Sie wollte zur nächsten Toilette laufen und Galle und Fäule erbrechen. Sie fühlte sich besudelt. Schmutz verkrustete ihr die Zunge, und Verdautes füllte sie bis zum Anus.
    Dann gelang es Jane zum erstenmal, den Blick vom Basilisken abzuwenden und den Direktor anzusehen. Er saß reglos hinter dem Schreibtisch, war gekleidet in Weste, Seidenkrawatte und Jackett. Die Hände ruhten im Schoß. Die Augen musterten sie mit einer reptilhaften Aufmerksamkeit, die völlig bar jeden Gefühls war.
    Es war der Baldwynn.
    Ein unterdrückter kleiner Schrei stieg Jane die Kehle hoch. Man hatte sie gefunden! Melanchthon hatte versprochen, sie vor der Entdeckung, vor der Suche, vor den Hetzhunden zu

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