Die Tochter des stählernen Drachen
schützen. Doch es war eine weitere Lüge gewesen. Sie durchlebte jetzt eine solche Verzweiflung und ein solches Gefühl des Verratenseins, wie sie es noch nie zuvor verspürt hatte.
Aber obgleich der Blick des Baldwynns jeder ihrer Regungen folgte, sagte er nichts und machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten, als sie sich zur Tür schob.
Jane hatte die Hand auf den Knauf gelegt, da fiel ihr Blick auf den Ordner im Schoß des Baldwynn. Es war ein bleiches Rechteck aus Manilapapier, locker in beiden Händen gehalten, und etwas daran sagte ihr, daß es bedeutend wäre.
Er folgte ihr mit den Augen, als sie in seinen Schoß griff. Seine bleichen Handrücken waren altersfleckig. Vorsichtig nahm sie den Ordner zwischen Daumen und Zeigefinger und zupfte daran. Er löste sich aus den Händen. Auch jetzt folgte er dem Ordner mit den Augen. Jane las den Namen auf dem Etikett.
Peter of the Hillside.
In heller Aufregung öffnete sie den Ordner. Darin lag ein einzelnes dünnes rechteckiges Blatt Papier und sonst nichts. Die Schrift darauf war grau und verschwommen; sie konnte sie hier unmöglich entziffern. Nicht in ihrem gegenwärtigen Zustand. Jane faltete das Papier zusammen und ließ es in ihre Bluse rutschen.
Der Baldwynn regte sich nicht, selbst als sie ihm den Ordner in die fleckigen Hände zurücklegte.
Der Flur war leer. Langsam trat sie hinaus. Ein Lehrer, der gerade aus seiner Tür treten wollte, sah sie herauskommen und wich zurück. Er wollte offensichtlich nichts davon wissen.
Ihr war benommen und unwirklich zumute, und sie schwebte förmlich den Flur hinab.
Als sie am Büro der Sekretärin vorüberkam, packten Grunt und Strawwe sie bei den Armen und zerrten sie rückwärts in den Raum. »Was hat er zu dir gesagt?« wollte die Sekretärin wissen. »Was hat er gesagt?«
Bislang hatte Jane die Selbstbeherrschung gewahrt, aber jetzt brach sie zusammen und weinte unbeherrscht aus einer Mischung von Furcht und Ekel. »Sie ist hysterisch«, sagte die Sekretärin. Sie holte aus und schlug Jane so heftig ins Gesicht, daß ihr der Kopf klingelte. Speichel flog, als die Sekretärin kreischte: »Was hat er gesagt?«
Da erkannte irgendein kühl kalkulierender Wesenszug Janes, der unerwarteterweise tief in ihr lauerte, die Chance und übernahm die Herrschaft. Keiner von ihnen hatte einen Anhaltspunkt. Sie hatten eine solche Angst vor dem Direktor, daß es keiner wagte, ihm persönlich unter die Augen zu treten. Sie hatten nicht mehr Ahnung, was er wirklich wollte, als Dame Mond persönlich. »Er hat gesagt, ich soll Alchemikerin werden!« schluchzte sie. »Er hat gesagt, Sie sollen mir ein volles Stipendium geben.«
Die Blicke der drei waren völlig verblüfft. Sie konnten nicht glauben, was sie hörten, ebensowenig konnten sie sich vorstellen, daß jemand nach einer Begegnung mit dem Basilisken zu einer Lüge imstande wäre. Es war eine unglaubliche Feststellung und gleichzeitig eine unwiderlegbare.
Aber am Ende jedoch konnten sie in dieser Hinsicht nichts weiter unternehmen.
Die Sekretärin machte sich daran, mit der Schreibmaschine die Formulare auszufüllen.
10
Die Libellen-Mädchen standen in einer Gruppe am Seiteneingang und rauchten. Weil ihre Körper während der sexuellen Reife äußerlich weitgehend unentwickelt blieben, sahen sie aus wie unförmige Kinder. Jane sah sie jeden Tag zusammen tratschen, wobei ihre Flügel aufgeregt summten. Sie hatten scharf ausgeprägte Hüften, waren nahezu brustlos und trugen Designer-Jeans und Seidenblusen. Sie schnippten lippenstiftverschmierte Zigarettenstummel in den Hof.
Sie wählte sich eine aus, die etwas weniger abweisend wirkte als die anderen, und wartete, bis sie sich von der Gruppe trennte. »Entschuldigung«, sagte Jane.
Das Libellen-Mädchen kam zu ihr, blieb stehen und blickte geringschätzig über eine Schulter. »Ist die Diebin«, sagte sie zu niemandem Bestimmtem.
»Sieh mal!« Jane zog ein silbernes Amulett aus der Handtasche. Es stellte eine zierliche gehämmerte Lebensblume dar und war einen ganzen Batzen Kleingeld wert. Sie hatte heute morgen die Schule geschwänzt, um sie zu klauen, und wenn sie erwischt worden wäre, hätte es einen gewaltigen Aufstand gegeben. Sie hatte jedoch die Gelegenheit ergreifen müssen, weil sie wegen der Masse kalten Eisens im Drachen niemals ein Schmuckstück mit heimnehmen konnte; es wurde stets krank und starb. Das Silber sang im Sonnenlicht, und bei seinem Anblick wurden die Augen des Libellen-Mädchens groß.
Weitere Kostenlose Bücher