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Die Tochter des stählernen Drachen

Die Tochter des stählernen Drachen

Titel: Die Tochter des stählernen Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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er würde unversehrt entkommen, während sie selbst erwischt und eine Bestrafung erleiden würde, die sowohl rasch als auch furchtbar wäre. Das hier war in beiderlei Hinsicht schlimmer, weitaus schlimmer.
    Zeit verstrich. Blugg kehrte nicht zurück. Auch die Techniker nicht, die gewiß hier arbeiteten. Zunächst erwartete sie sie voller Furcht, da sie nicht wußte, wie sie ihnen glaubhaft erklären sollte, was sie in deren Arbeitsbereich verloren hatte. Dann wünschte sie sich aus schierer Langeweile, daß die Techniker endlich kämen. Schließlich wurde ihr alles gleichgültig. Sollten sie doch kommen, oder auch nicht; es war ihr egal. Sie war zu einem Wesen geworden, das nur noch beobachtete, einem passiven Wahrnehmer der rauhen körnigen Metallspäne auf der Werkbank, des oxidierten Gummigestanks der Voltmeter und des feinen Glanzes der Maserung auf den glattgescheuerten Sitzflächen der Hocker. Ohne sie würden diese Dinge aufhören zu existieren und lautlos und dankbar im Nichts verschwinden.
    Quälend langsam wurde das Licht von den Fenstern schwächer und der Raum kühler. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit ging jemand im Gang vorüber, drehte Schalter, und Reihe um Reihe der Leuchtröhren an der Decke ging flackernd an.
    Jane schmerzte der Magen. Ihr war auf eine Weise erbärmlich zumute, die jenseits von Tränen lag. Die Eingeweide krampften sich ihr zusammen. Zum wiederholten Mal ging sie in die Mitte des Raums, wobei ihr das Drachenauge bei jedem Schritt folgte. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber gewiß hatte sie das Abendessen längst versäumt.
    Krachend schlug die Tür auf.
    Blugg trat ein. Er wirkte erschöpft und zerstreut. Sein graues Arbeitshemd war feucht unter den Achselhöhlen, und die Ärmel hatte er halb die behaarten Unterarme hinaufgerollt. Ruckartig richtete sich das Drachenauge auf ihn.
    »Was hast du in meinem Büro gewollt?« Seltsamerweise sah Blugg Jane nicht an. Statt dessen blickte er stirnrunzelnd auf einen kleinen Kristall mit zarter Spitze hinab, der an einer Schlinge von seiner Hand herabhing.
    »Ich habe nur ...«
    Ohne Janes Zutun hob sich ihre Hand an den Mund. Sie schürzte unfreiwillig die Lippen. Es war exakt dieselbe Geste, die sie gemacht hatte, als Blugg sie vor seinem Büro gesehen hatte. Entsetzt ließ sie die Hand rasch herabfallen und barg sie hinter dem Rücken.
    Einen Augenblick lang sah Blugg sie glotzäugig und ohne zu blinzeln an. Langsam entstand ein Lächeln auf seinem Gesicht. »Du kleines Dreckstück. Du hast meinen Abfall durchwühlt.«
    »Nein!« rief sie. »Ich habe wirklich nichts mitgenommen! Ich hab nichts mitgenommen!«
    Blugg ließ den Kristall zurück in seinen Plastikbehälter gleiten und stopfte diesen in seine Hemdtasche. Er streckte die Hand aus und faßte Jane beim Kinn.
    Sein Lächeln wurde träumerischer und, was weitaus erschreckender war, geistesabwesend. Er drehte ihren Kopf von Seite zu Seite und musterte eindringlich ihr Gesicht. »Mmmm.« Er ließ den Blick über die Vorderseite ihrer Arbeitsschürze laufen, als taxierte er ihre Kraft. Er blähte die Nasenflügel. »Meinen Papierkorb durchwühlt, hm? Orangenschalen und Sandwichkrusten gesucht. Nun, warum nicht? Ein gesunder Appetit ist nur gut für eine Heranwachsende.«
    Das war schrecklicher, als alle Drohungen es gewesen wären, denn es ergab überhaupt keinen Sinn. Jane sah verständnislos zu Blugg auf.
    Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie langsam herum. »Du hast wie lange für mich gearbeitet? Nun, es sind Jahre gewesen, nicht wahr? Wie die Zeit vergangen ist! Du wirst ein großes kleines Mädchen, nicht wahr? Vielleicht ist es an der Zeit, daß du befördert wirst. Ich werde dich für einen Büroboten 3. Klasse vorschlagen. Wie würde dir das gefallen?«
    »Sir?«
    »Sag nicht Sir zu mir! Die Frage ist wohl nicht schwer zu verstehen.« Er sah sie merkwürdig an, dann sog er wiederum die Luft ein. »Pfui! Du blutest. Warum hast du dich nicht saubergehalten?«
    »Bluten?« fragte sie verständnislos.
    Blugg wies mit einem fetten groben Finger auf ihr Bein hinab. »Da!«
    Jane sah nach unten. Tatsächlich tröpfelte ihr Blut an der Wade herab. Sie spürte jetzt, wie es sie vom Oberschenkel herab juckte.
    An dieser letzten Demütigung zerbrach ihre noch soeben aufrechterhaltene Beherrschung. Das jähe Auftauchen von Blut, wie durch Zauber aus irgendeiner unerwarteten Wunde entstanden, zerriß die Membran, die ihre ganze Furcht und Anspannung

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