Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Gegenteil.
Er legte
die Feder aus der Hand und beobachtete durch das Fenster, wie sich die Dämmerung
über die Hausdächer legte. Plötzlich war es wieder da, dieses lähmende Gefühl, dieser
Eindruck, im dreckigen Grund zu wühlen, ohne irgendetwas zu erreichen. Wenn ihm
nicht bald etwas Wirkungsvolles einfiel, würde er nichts ausrichten gegen seinen
Widersacher, ihn lediglich ein wenig piesacken. Doch das war ihm nicht genug. Er
verschwendete seine Zeit, und doch konnte er von seiner Wut nicht lassen. Seit er
an diesem Ort war, hielt sie ihn nur noch mächtiger gefangen als zuvor.
Kapitel 4
Es gab nichts für sie zu tun. Jolanthe
stand an einem der Fenster im Kontor, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sie
wippte von den Fersen auf die Ballen und zurück, während sie durch die runden Scheiben
drei Stockwerke hinunter auf die Straße schaute. Die Gestalten der wenigen Passanten
wurden verzerrt durch die Wölbung der Gläser, die Linien der Häuser gegenüber wanden
sich mit jedem Wippen vor und zurück. Zwar langweilte sie sich, doch hinunter zur
Schwester wollte sie nicht gehen. Sich herumkommandieren zu lassen, womöglich den
Vater und seinen Gast bedienen zu müssen, nein, sie hatte keine Lust dazu.
Hier oben
war sie ihr eigener Herr. Sie hatte die Bücher aktualisiert, nun konnte sie nur
auf die Ankunft von Cornelius warten. Er sollte eine neue Tuchlieferung von den
Webereien aus Biberach bringen und hatte sich für heute angekündigt. Sie freute
sich auf ein gutes Geschäft, das sie mit Zahlen auf Papier erfassen und festhalten
konnte und das wie immer ein berechenbarer Erfolg zu werden versprach. Die Tuchballen
würden im Handelshaus der Ulmer Tuchhändler lagern, dort, wo sich auch der Vater
meist aufhielt, Geschäfte machte und den Burschen zur Auslieferung der verkauften
Ware durch die Gegend scheuchte.
Jolanthes
Welt hingegen war das Kontor hier im Haus, ein Raum, der die ganze Grundfläche des
Gebäudes einnahm, die allerdings nur zehn Schritte in der Tiefe maß. Deswegen lagerten
sie hier nur in Ausnahmefällen Ware. Leere Kisten stapelten sich in einem Eck, ein
Schreibpult stand im Licht, das durch die Fenster hereinfiel, und an einer Seite
nahm ein Regal, in dem sie die Geschäftsbücher und mathematischen Werke aufbewahrten,
die ganze Wand ein.
Das Kontor
lief nicht hervorragend, aber auch nicht schlecht. Die städtische Barchentherstellung
zwang den Vater zwar, aus Kostengründen mit den Webereien aus dem Umland zu arbeiten,
die nicht unter der Kontrolle des Ulmer Rates standen, doch garantierte sie ihm
andererseits eine stetige Abnahme von Leinen, mit dem er ebenfalls handelte. Er
hatte im Laufe der Jahre seine Kontakte auf- und ausgebaut, und manchmal schien
es Jolanthe, als ruhe er sich darauf aus. Vergrößert hatten sie sich in all den
Jahren nicht, im Gegensatz zu anderen Ulmer Kaufmannsfamilien, die ihren Reichtum
immer weiter vermehrten. Wieder sah sie die bunten Körbe des Gewürzhändlers vor
sich, den Mann in teure Seide gekleidet. War das nicht Hinweis genug, dass sich
damit gutes Geld verdienen ließ?
Jolanthes
Lehrer Vincent war genauso ein zögerlicher Mensch gewesen wie ihr Vater Winald.
Vorsichtig nannte er sich selbst, doch Jolanthe hatte oft den Kopf über die beiden
geschüttelt. Immer wieder lief sie ins Handelshaus, verwickelte Fremde wie Bekannte
in Gespräche und erfuhr Dinge, die Vincent rundheraus bestritt. Alles Grundlegende
hatte sie von ihm gelernt, Arbeiten für ihn ausgeführt, weil ihn die Augen schmerzten,
und schließlich, als er zu alt für seinen Beruf wurde und sich zurückzog, die Buchführung
gänzlich übernommen. Aber auf sie hören wollte er genauso wenig wie ihr Vater, in
diesem Punkt waren sie sich gleich.
Jolanthe
hörte auf mit dem Wippen, öffnete das Fenster und zupfte ein wenig an den Veilchen
in dem Holzkasten auf dem Fensterbrett. Zu trocken, die brauchten Wasser, befand
sie. Sie nahm eine Kanne vom Boden auf, goss einen Schwall über die Blumen, sodass
kleine Tropfen auf den Blättern funkelten und in der Mittagsonne verdampften. Wo
er nur blieb, der Cornelius?
Sie schloss
das Fenster, schlenderte zum Buchregal und sah in das Werk, welches sie zum ersten
Mal darauf gebracht hatte, dass man für die einzelnen Bereiche getrennte Auflistungen
anlegen konnte. Sie hatte sich angewöhnt, drei Bücher nebeneinander zu führen. Eines
für die Haushaltsausgaben, in das sie eintrug, wer welche Summe entnahm, eines für
Vaters
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