Die Tochter des Tuchkaufmanns: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hallten in ihren Ohren. Sie starrte auf die roten Flecken auf dem Steinboden.
Ihr wurde übel.
Die Zeit
kroch voran wie zähflüssiges Öl. Jolanthe konnte sich nicht bewegen, aus Angst,
die Hülle der Ungewissheit, die sie umgab, könnte brechen und Ungeheuerliches offenbaren,
wenn sie sich auch nur einen Schritt nach vorn wagte. Erst, als die Männer zurückkamen,
erwachte sie aus ihrer Starre. Sie hielt einen am Ärmel fest, krallte sich mit den
Fingern in den Stoff.
»Er kann
doch gehen, oder? Es ist nur eine Schürfwunde, die bluten manchmal heftig. Ihr hättet
ihn nicht zu tragen brauchen, er ist stark.«
Ein mitleidiger
Blick traf sie. Seine Augen sind braun, dachte sie zusammenhanglos. Sie kannte den
Kerl nicht.
»Natürlich.
Es sieht ein bissel schlimm aus, aber ist bestimmt …«
»Was ist
geschehen?«
»Ist unter
ein Fuhrwerk geraten, weiß der Himmel wie. Hat mit einem Mann gestritten, sich umgedreht.
Der Fuhrmann war zu schnell, weiß der Himmel. Wird schon wieder, Jungfer. Ihr solltet
besser den Medikus holen.«
Die Männer
ließen sie stehen, einer zögerte noch, als sei er unsicher, ob er ihr nicht Hilfe
anbieten müsse. Dann hob er entschuldigend die Arme und ging. Durch die offene Haustür
fiel ein Streifen Abendsonne herein, der wie zum Hohn die roten Flecken funkeln
ließ. Ein Fuhrwerk, dachte Jolanthe und presste die Hand gegen den Mund. Der Medikus,
ich muss ihn holen. Er wird es wieder richten, es ist nichts Schlimmes geschehen,
sonst wäre Sieglinde nicht so ruhig geblieben.
Ihr war
kalt, sie fröstelte trotz der Wärme vor dem Haus. Sie rannte, ohne nachzudenken,
rempelte einen Mann an, der aus einer Seitengasse trat, fing sich wieder, stolperte
weiter. Sie hatte immer noch kein Empfinden für die Zeit, die verstrich, und stand
so unvermittelt vor dem Haus des Medikus, dass sie zweimal prüfen musste, ob sie
richtig war. Ihre Augen brannten, sie hob die Hand und klopfte mit aller Kraft gegen
die Tür. Nichts geschah. Schließlich begann sie zu rufen, zu schlagen, spürte, wie
ihr der Schmerz bis in die Arme zog, wenn ihre Fäuste auf das Holz trafen. Endlich
öffnete die Frau des Arztes. Ein verwunderter Blick traf Jolanthe.
»Ich brauche
Hilfe«, keuchte sie. »Ist der Herr Medikus da? Er muss kommen, mein Vater hatte
einen Unfall!«
Die Frau
legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm und wollte sie hereinführen, doch Jolanthe
riss sich los. »Er muss sofort kommen, bitte!«
Es dauerte
so lange. Jolanthe sprach ein stummes Gebet, lief dabei vor dem Haus auf und ab
und blickte immer wieder auf die geöffnete Tür. Als der Mann mit seiner Arzneientasche
endlich erschien, fragte er: »Na, was gibt’s denn für Schwierigkeiten?« Sie packte
ihn an der Hand und zog ihn ohne viele Worte mit sich.
Den Medikus
an ihrer Seite betrat sie schließlich das Gemach des Vaters, sah die Schwester mit
nassen Tüchern hantieren, roch Blut und Schweiß und Urin und verkrampfte die Hände
ineinander, als sie den reglosen Körper auf der Bettstatt liegen sah. Sie wollte
rückwärts wieder heraus, aber zwang sich zu bleiben.
»Danke«,
begrüßte Sieglinde sie. Ruhig wie immer wirkten ihre Bewegungen. Als der Medikus
sich nun über Winald beugte, fragte sie, wie sie ihm zu Diensten sein könne.
»Wir müssen
das Bein richten und schienen.«
»Jolanthe?«
Sie ging
auf die Schwester zu, half ihr nach Anweisung des Medikus, das Stück Holz zu halten,
mit der er den zertrümmerten Unterschenkel richten wollte, auch wenn sie nicht wusste
wie. Winalds Augen waren geschlossen, er war nicht bei Bewusstsein. Es knirschte,
als der Medikus das Bein dem Stock anpasste, doch die Knochen griffen nicht mehr
ineinander, rohes Fleisch überall, Jolanthe schloss die Augen und atmete tief durch.
Dann blickte sie zur gegenüberliegenden Wand, um die Wunde nicht mehr sehen zu müssen,
griff nach der Hand des Vaters, obwohl er das nicht spüren konnte. Ruhe bewahren,
ermahnte sie sich. Nimm dir ein Beispiel an Sieglinde, verdammt! Vater ist stark,
er wird das überstehen. Ist doch nur das Bein.
»Helft mir,
es zu verbinden.«
Jolanthe
fühlte sich nutzlos, stand nur im Weg, wurde von Sieglinde beiseite geschoben. Also
ging sie in die Stube, kniete vor dem Hausaltar und sprach ein Gebet. Es ging ihr
leicht von den Lippen und nahm ihr die Schwere vom Herzen. Herr im Himmel, vergib
meine Zweifel.
Irgendwann
hörte sie eine Tür schlagen, kurz darauf Stimmen auf dem Gang. Sie hastete hinaus
und hörte den Medikus: »…
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