Die Toechter der Familie Faraday
So empfand sie seit Jahren schon. Die Erinnerung an die schreckliche Zeit von damals war verblasst. Das Ganze kam ihr beinahe irreal vor, als ob es niemals geschehen wäre. Maggie war kein Leid angetan worden. Sie hatte sich trotzdem zu einer klugen, glücklichen und selbstbewussten Frau entwickelt. Alles, was aus jener Zeit blieb, waren Fragen. Clementine wollte wissen, warum Sadie das getan hatte. Mittlerweile könnte sie ihre Schwester auch ganz ruhig danach fragen. Aus wahrer Neugier, ohne die Wut, mit der sie in früheren Jahren an Sadie gedacht hatte.
Sie versuchte oft, sich ihre Schwester vorzustellen, und fragte sich, ob sie jemals wieder in Hobart gewesen war. Hatten sie womöglich alle im Haus gesessen, und hatte Sadie sie dabei heimlich beobachtet? Waren sie und Maggie über den Salamanca-Markt gegangen, hatten einen Kaffee am Meer getrunken, und hatte Sadie unbemerkt neben ihnen gesessen und sie gemustert?
Sadies letzte Karte war wie immer pünktlich eingetroffen, eine Woche vor Maggies Geburtstag. Der neue Gemeindepfarrer, Vater Huang, hatte sie gebracht. Er hatte keine Fragen beantwortet, weder woher Sadies Karte gekommen war noch ob er in letzter Zeit mit ihr gesprochen hatte.
»Wir müssen ihre Privatsphäre respektieren«, hatte er nur gesagt.
Das langjährige Schweigen der Priester hatte sie alle frustriert, aber, wie Leo immer sagte, wenn Sadie keinen Kontakt außer der jährlichen Karte an Maggie wünschte, konnten sie nichts unternehmen.
Sie hatten ohne sie weitergelebt. Das hatten sie nicht erwartet: Das Leben war einfach weitergegangen. Mit Maggie in ihrer Mitte war es natürlich leichter. Sie war Ablenkung, das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, ein steter Quell der Freude. Clementine gab gerne zu, dass sie als Mutter voreingenommen war, aber Maggie war etwas Besonderes.
Immer wenn Clementine glaubte, ihre Tochter endlich inund auswendig zu kennen, überraschte Maggie sie aufs Neue. Es war eine erstaunliche Erfahrung. Obwohl Maggie ihr eigen Fleisch und Blut war, war sie eine eigenständige Person, hatte ihre eigene Persönlichkeit, ihre eigene Art, ihren eigenen Kopf. Clementine fand sich durchaus in Maggie wieder. Nicht nur in ihrem Äußeren – sie teilten auch die Begeisterung (Miranda nannte es Besessenheit) fürs Lernen. Maggie hatte aber auch viel von ihrem Vater, vor allem seine Intelligenz.
Nicht dass Maggie und Clementine viel von David gesehen hätten. Er lebte mit Frau und Kindern in Perth. Mit ihr hatte er vier Kinder. Maggie hatte alle kennengelernt, und die Begegnung war sehr zivilisiert verlaufen, aber sie hatte zu ihren Halbgeschwistern keine enge Bindung und würde sie wohl auch niemals haben. David hatte ihnen über viele Jahre finanziell unter die Arme gegriffen, bis Leos Erfolg Davids Zuwendungen überflüssig machte. Maggie erhielt noch immer jedes Jahr eine Geburtstagskarte und schickte David und seiner Familie einen Weihnachtsgruß. Davon abgesehen trat er kaum in Erscheinung. Clementines Intuition während der Schwangerschaft hatte sich als richtig erwiesen.
Gelegentlich sprach sie mit Maggie über ihren Vater. Um zu sehen, ob es ihr gut ging, ob es ihr nichts ausmachte, dass sie ihn nicht öfter sah.
»Sollte es?«, hatte Maggie gefragt. »Ich weiß doch, wer er ist. Und wo er ist. Das reicht doch, oder? Wenn ich Männersachen wissen muss, kann ich doch auch Tollpatsch fragen.«
»Tja, sicher«, hatte Clementine verblüfft erwidert.
Juliet hatte sie später ausgelacht. »Du bist doch der Inbegriff der Vernunft. Es sollte dich kaum überraschen, dass deine Tochter dir nachschlägt.«
Doch Clementine konnte den Erfolg von Maggies Erziehung nicht vollständig für sich verbuchen. So schwer es ihr seinerzeit auch gefallen war, sie hatte zugeben müssen, dass Sadie in den ersten fünf Jahren wie eine zweite Mutter für Maggie gewesen war. Juliet, Miranda und Eliza hatten sie aus der Kindheit hinausbegleitet, durch die Teenagerjahre und jetzt ins Erwachsenenleben geführt. Nach den Vorkommnissen mit Sadie war es Clementine anfangs schwergefallen, Maggie aus den Augen zu lassen, aber die regelmäßigen Besuche bei ihren Tanten hatten allen gutgetan, besonders Maggie. Sie war unter ihrer aller Aufmerksamkeit erblüht.
»Kein Wunder, dass sie so ein großartiges Kind ist«, hatte Leo einmal gesagt. »Sie ist ja auch gehegt und gepflegt worden. Wie eine seltene Orchidee, die vierundzwanzig Stunden unter gärtnerischer Beobachtung steht.«
Doch Maggie war nicht nur von
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