Die Toechter der Familie Faraday
hatte ein halbes Jahr lang darauf gewartet, dass ihr Forschungsantrag bewilligt wurde, und nun hielt sie endlich die Zusage in Händen. Sie griff automatisch zum Telefon, um Maggies Londoner Nummer zu wählen, und konnte sich gerade noch bremsen. Maggie war nicht mehr in London, und außerdem wollte sie im Moment in Ruhe gelassen werden.
Clementine stellte sich das Gespräch stattdessen in Gedanken vor. »Maggie, ich hab es!«
Maggie wüsste sofort, was »es« war. »Das ist ja großartig! Wann fährst du? Wie lange bleibst du diesmal?«
Sie würde vierzehn Monate fort sein, ihr längster Aufenthalt überhaupt. Ihre drei anderen Forschungsreisen in die Antarktis hatten während des Sommers stattgefunden. Sie war Anfang November abgereist und im Februar zurückgekommen.
»Macht es dir auch wirklich nichts aus, Maggie?« Immer schon hatte sie ihrer Tochter diese Frage gestellt. Anfangs, wenn es um regionale Exkursionen ging, als Maggie noch klein war. »Macht es dir auch wirklich nichts aus, wenn ich nach Maria Island fahre?« »Macht es dir auch wirklich nichts aus, wenn ich nach Devonport fahre?« Die Reiseziele hatten sich mit den Jahren geändert, in dem Maße, wie sich Clementines Forschungsgebiet erweiterte und ihre Reputation ihr immer neue Möglichkeiten eröffnete. »Macht es dir auch wirklich nichts aus?«
Sie hatte Maggie zuletzt vor drei Jahren gefragt, als sie sich erstmalig darum beworben hatte, in die Antarktis zu gehen. Schließlich konnte sie von dort nicht einfach in ein Flugzeug steigen, falls etwas passieren sollte. Schließlich konnte Maggie nicht einfach zu ihr jetten, waren E-Mail- und Telefonverbindungen nicht immer verlässlich.
»Du musst«, hatte Maggie begeistert insistiert. »Mum, das ist genial.«
In dem Moment hatte Clementine gewusst, dass Maggie es ernst meinte. Denn nur bei besonderen Anlässen nannte Maggie sie »Mum«.
Clementine hatte sich in dem Moment in die Antarktis verliebt, als die Landmasse wie eine majestätische weiße Kuppel am Horizont aufgetaucht war. Sie hatte wie eine gewaltige Wolke ausgesehen. Die Reise mit dem Schiff von Hobart dauerte gewöhnlich vierzehn Tage, einmal aber noch länger, weil sie sich den Weg durch dichtes Packeis bahnen mussten. Clementine schlug ihr Lager auf der Davis Station auf, um von dort aus die Adélie-Pinguine zu erforschen. Ihre erste Begegnung war nicht besonders inspirierend verlaufen: Sie waren in Scharen auf der Forschungsstation herumgelaufen und hatten schmuddelig und missmutig ausgesehen. Bei ihrer zweiten Reise hatte sie Wochen außerhalb der Station bei einer Kolonie verbracht und die Brutgewohnheiten erforscht. Es war komisch, die Pinguine beim Nestbau zu beobachten. Sie watschelten davon, holten einen Stein, watschelten zurück, legten ihn auf einen Haufen und watschelten wieder davon. In der Zwischenzeit watschelte dann ein anderer Pinguin herbei und klaute sich den Stein. Aber sie hatte auch sehr ernsthafte Forschung betrieben, mit einem Team von Engländern, Deutschen, Spaniern, Schweden und anderen Australiern.
Bis zu ihrer Abreise dauerte es noch Monate, aber Clementine konnte sich nicht beherrschen. Sie machte die Checkliste. Sie griff in Gedanken nach ihrem Zopf und fuhr erneut vor Überraschung zusammen. Er war fort. Sie hatte ihn vor einigen Wochen abschneiden lassen, genau in der Woche, als sie den Antrag auf den Forschungszuschuss abgegeben hatte. Sie hatte entschieden, es wäre an der Zeit, immerhin war sie schon Anfang vierzig. Außerdem wäre es viel praktischer, sollte sie wieder in die Antarktis reisen. Auf der Station war das Duschen auf drei Minuten beschränkt, da war kaum Zeit für die Körperpflege, geschweige denn für eine Haarwäsche. Sie mochte ihren neuen Kurzhaarschnitt, ein Helm aus dunklen Locken, mit einem längeren Pony. Maggie fand ihren neuen Look auch toll. Leo hatte gemeint, dass sie als Schwestern durchgehen könnten. Das sagte er seit Maggies Teenagerzeiten.
Clementine arbeitete zwanzig Minuten an ihrer Liste, dann legte sie eine Pause ein. Wenn jemand zu Hause gewesen wäre, hätte sie eine Flasche Champagner geöffnet. Stattdessen wollte sie es sich mit einer Tasse grünen Tees und einer Klaviersonate von Beethoven gemütlich machen. Sie hörte sie gerne sehr laut, und in diesen Tagen konnte sie im Haus tun und lassen, was sie wollte. Sie hatte es fast das ganze Jahr lang für sich. Leo war in letzter Zeit selten in Tasmanien. Er war unglaublich. Ein Mann Ende siebzig, noch immer
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