Die Toechter der Familie Faraday
aktiv und weltoffen. In all den Jahren hatten sie sich nur ein einziges Mal gestritten, und das war während der schrecklichen Zeit mit Sadie. Es hatte ihnen beiden das Herz gebrochen. Am Ende hatten sie gemeinsam entschieden, nicht mehr über Sadie zu sprechen.
Während Clementine den Teekessel aufheizte, stand sie vor der Zettelwand am Kühlschrank. Die Hausarbeitspläne von früher waren fort. Jetzt hingen dort fast nur noch Erinnerungsstücke an Maggie. Im Laufe der Jahre waren Schulzeugnisse, Berichte über Sporttage und Zeichnungen über das Brett gewandert. Artikel aus tasmanischen Zeitungen über die landesweiten Mathematik-Wettbewerbe, die sie gewonnen hatte. Ein Ausschnitt aus einer Tageszeitung aus Sydney, als Maggie die Universität mit Bestnote abgeschlossen hatte, noch dazu als jüngste Studentin seit Bestehen der Einrichtung.
Neben den Artikeln hingen auch Fotos, an manchen Stellen gleich mehrfach übereinander. Auf dem jüngsten Bild waren Maggie und Angus zu sehen, während des Urlaubs in den Yorkshire Dales. Clementine nahm das Foto ab. Dann änderte sie ihre Meinung. Maggie sah so hinreißend aus. Clementine holte die Küchenschere, schnitt Angus aus dem Bild, warf ihn in die Mülltonne und hängte Maggie zurück an das Brett. Die anderen Maggies lächelten zustimmend.
Die Pinnwand erzählte Maggies Leben in Bildern. Fotos aus dem Urlaub in Bicheno, als Zweijährige, neben Fotos von ihren Reisen nach Sydney zu Juliet und Myles. Als Teenager in Melbourne bei Miranda. Ein Babyfoto neben einem Bild mit Eliza, aufgenommen im Stadium in Melbourne, am Tag des großen Finalspiels der Australian Football League. Unzählige Momentaufnahmen aus ihrem Leben.
Das Einzige, was fehlte, waren Fotos von Maggie und Sadie. Clementine hatte sie vor zwanzig Jahren abgenommen. Selbst nachdem Maggie gefunden worden und wieder heil nach Hause gekommen war, hatte niemand sie wieder aufgehängt. Vielleicht wagte es niemand. Vielleicht war es aber auch nicht nötig.
Denn seit ihrem Verschwinden dachten alle viel häufiger an Sadie als damals, als sie noch in ihrer Mitte gelebt hatte. Soweit man an jemanden denken konnte, ohne nähere Einzelheiten über sein Leben zu wissen.
Clementine hinterfragte die Situation nur gelegentlich. Warum sagte Sadie ihnen nie, wo sie war? Warum kam sie nie zu Besuch? Es hatte Clementine Angst gemacht, dass es so einfach war, die Lüge aufrechtzuerhalten, Jahr um Jahr, und ebensolche Angst, dass eine Person einfach aus einem Leben heraustreten und ein neues beginnen konnte. Die Familie und alles Vertraute hinter sich lassen konnte.
Sie sprachen kaum noch darüber. Eine gelegentliche Bemerkung, eine umsichtige Antwort auf einen unschuldigen Kommentar von Maggie. Einmal hatte Maggie gefragt, warum ihre Tante niemals anrief, und Miranda hatte ohne Zögern erklärt, dass Sadie die moderne Technik für verwerflich hielt.
»Also sieht sie niemals fern? Geht nie ins Kino? Was macht sie denn dann?«
»Tanzen«, hatte Miranda gesagt.
Maggie hatte angefangen zu lachen. »Sadie kann doch nicht den ganzen Tag tanzen. Sie muss doch arbeiten. Wie soll sie denn Essen und Kleider kaufen?«
»Sie bauen viel selbst an. Und tragen viel Secondhandkleidung. Dann ist das Leben nicht so teuer.«
Clementine hatte Miranda später ausgeschimpft. Ihre Worte waren wie Wasser auf dem Gefieder einer Ente abgeperlt.
»Ich habe immer gesagt, wenn euch etwas Besseres einfällt, nur raus damit. Gott bewahre, wir würden Maggie die Wahrheit erzählen.«
Doch Clementine hatte Maggie oft die Wahrheit erzählen wollen. Allen die Wahrheit erzählen wollen, es endlich publik machen. Sadie hatte etwas Dummes, Gefährliches getan, aber es hatte doch alles ein gutes Ende gefunden. War es so simpel?
Sie hatte mit Leo darüber gesprochen. Seine Antwort hatte sie überrascht. »Du musst das von zwei Seiten betrachten, Clementine. Sadie hat uns nicht nur wegen dem, was mit Maggie passiert ist, verlassen. Sondern weil sie uns verlassen wollte.«
»Aber wenn wir ihr sagen würden, dass wir sie wiedersehen wollen …«
»Das haben wir. Ich zumindest. In jedem Brief, den ich mitschicke. Sie hat keinen einzigen beantwortet.«
»Das ist meine Schuld. Es ist alles meine Schuld.«
»Nein, Clementine. Niemand trifft eine Schuld. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.«
Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber sie vermisste Sadie. Sie wollte sie wirklich wiedersehen. Sie würde sie im Kreis der Familie willkommen heißen.
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