Die Tore des Himmels
eigenen Gedanken hegte, wage ich zu bezweifeln. Immerhin war sie die Einzige, die sie »Erszi« nennen durfte, als Koseform ihres ungarischen Namens »Erszebet«. Sie waren ja schon in Ungarn zusammen aufgewachsen.
Irgendwann wurde unser Meister Igilbert zu alt und hatte nicht mehr genug Geduld für uns Kinder, also schickte man ihn ins Kloster Reinhardsbrunn. Wir bekamen einen neuen Lehrmeister in Glaubensdingen, Magister Berthold, ach, den liebten wir sehr. Er war jung und nicht so streng; bei ihm gab es keine Schläge auf die Finger und kein Eckenstehen. Er stotterte ein bisschen, aber das machte nichts, selbst Agnes mochte ihn so gern, dass sie ihn nicht verspottete.
Und noch jemand, der uns in Glaubensfragen so manches beibrachte, lebte zu Zeiten am Hof. Wido, so war sein Name. Er erschien oft wie aus dem Nichts, und dann verschwand er nach ein paar Wochen wieder wie ein Geist. Es war fast unheimlich: Niemand wusste, woher er kam, aber plötzlich war er da oder fort. Und doch erfreute dieser Wido sich der besonderen Gunst des Landgrafen, ja er stand bei ihm in so hohem Ansehen, dass er an der Tafel neben ihm sitzen und mit ihm von einem Teller speisen durfte. Dabei sah er aus wie der allerärmste Bettler, mager, in raue Gewänder gekleidet, barfuß. Das verstanden wir nicht. Aber wir Kinder spürten wohl, dass von ihm etwas Besonderes ausging. Er aß kein Fleisch und trank keinen Wein, er verrichtete keine Arbeit. Jeden Tag saß er lange mit den Landgrafensöhnen zusammen, die ihm mit großer Ehrerbietung begegneten, sogar Heinrich Raspe, der eigentlich vor niemandem Respekt hatte.
Obwohl er uns nicht recht geheuer war, gingen Guda, Elisabeth und ich doch manchmal zu ihm, um seine Geschichten zu hören. Er erzählte so packend, dass man den Blick dabei nicht von ihm abwenden konnte. Einmal war seine Stimme harsch und trocken, dann wieder schmeichelnd und sanft. Manchmal sah er plötzlich böse aus und seine ganze Miene verhärtete sich, dann wieder setzte er ein gütiges Lächeln auf und sprach freundlich und lieb. Etwas an ihm zog uns in seinen Bann, obwohl er uns im Grunde Angst machte. Elisabeth wusste ihr Leben lang nicht, wer er wirklich war, ich habe es ihr nie gesagt. Wenn sie geahnt hätte, dass der Wunsch nach Armut, der sich ihr damals einpflanzte und der ihr ganzes Leben bestimmen sollte, von den Abtrünnigen, Irrgläubigen kam, ich weiß nicht, wie sie damit fertig geworden wäre.
In dieser Zeit jedenfalls zog uns Wido magisch an, und nicht nur uns. Eigentlich war er hässlich, ein Kahlkopf mit dichten hellen Brauen, schmalen Lippen und einer breitgedrückten Nase. Sein Blick hatte etwas Stechendes, Kaltes. Seine rechte Gesichtshälfte war von einer Brandnarbe entstellt, später erfuhr ich, dass ihm jemand mit einer Fackel hineingefahren war. Heute noch sehe ich ihn auf dem Mäuerchen der Wartburger Zisterne sitzen, uns Kinder zu seinen Füßen. »Nur die«, sagte er, »sind wahre Gläubige, die Christus auf seinem Weg folgen und dem Leben der Jünger nacheifern. Sie streben nicht nach den Dingen der Welt, besitzen keine Häuser, Äcker oder Geld, genau wie Christus nichts besaß und seinen Jüngern keinen Besitz erlaubte. Die wahren Gläubigen sind die Armen Christi, haben keine Wohnung, führen ein heiliges und strenges Leben, fasten, beten und erbitten nur das Lebensnotwendige für ihren Unterhalt. Fleischliche Dinge sind des Teufels, deshalb werden die wahren Christen sich nicht im Geschlechtlichen verlieren. Und nur wenn sie, die wir die ›guten Menschen‹ nennen, ein Leben lang gestrebt und nie einen Fehler gemacht haben, dann steigt ihre reine Seele nach ihrem Tod befreit in den Himmel.«
Elisabeth hörte das alles mit offenem Herzen. »Meister Wido«, fragte sie einmal, »aber wenn ich sündig bin, so erlange ich doch trotzdem das ewige Leben, denn ich bin ja getauft, oder?«
Der Alte schüttelte den Kopf. »Wie kann das Sakrament der Taufe etwas nützen, wenn der Getaufte sich nicht freiwillig dazu entschieden hat und als winziger Menschling noch gar nicht weiß, was gut und böse ist? Erst wenn man zu Verstand gekommen ist, sollte man sich bekehren und in die Geheimnisse des Glaubens einweihen lassen. Und auch danach kommt es immer darauf an, wie man lebt.«
Uns fiel damals schon auf, dass dies alles ganz anders klang als die Lehren, die wir im Unterricht hörten. Wido erklärte uns, dass es verschiedene Arten Gläubige gäbe: Die einen erkannten die wahre Lehre, waren aber noch
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