Die Tore des Himmels
Nichts davon tat sie, obwohl ich oft darüber mit ihr redete. Sie war ganz Gefühl und gar nicht Verstand, nur Herz und nicht Hirn. Sie wollte sich in der Rolle der unmittelbar Helfenden wiederfinden, nicht über Gesetze und Verordnungen aus der Ferne Not lindern. Das war ihr zu weit weg, das konnte sie nicht genießen, den Dank nicht in den Augen anderer sehen. Und genau darum ging es ihr in Wirklichkeit. Dazu kam noch, dass mit einer Unterschrift unter einem fürstlichen Befehl keine Selbsterniedrigung verbunden war, wie Elisabeth sie anstrebte. Sie wollte Gott ihre Demut beweisen, und das konnte sie nur, indem sie in Schleim und Eiter fasste – nicht, indem sie eine Urkunde unterzeichnete, die auf einen Schlag Tausenden von Armen Gutes gebracht hätte. Im Grunde genommen ging es Elisabeth bei allem, was sie tat, immer nur um sich selber. Ich weiß, das klingt hart, aber so empfinde ich es bis heute. Kein Mensch ist nur gut, nicht einmal eine Heilige.
Dass sie nicht eine Stunde am Tag für Regierungsgeschäfte verwendete, raubte ihr auch noch den allerletzten Rückhalt im Adel. Die Räte baten sie zum Gespräch – sie kam nicht. Man schickte jemanden zum Hospital, um sie zu holen –, sie ließ ausrichten, sie habe keine Zeit. Schließlich trafen die Räte ihre Entscheidungen ohne sie, dafür aber mit Heinrich Raspe. Er wurde innerhalb von wenigen Wochen der heimliche Herrscher in Thüringen, und man konnte es ihm nicht einmal verdenken. Einer musste ja die Aufgaben des Landesfürsten übernehmen. Aber während er bei den Menschen wegen seines Hochmuts immer unbeliebter wurde, begannen sich die ersten Legenden um Elisabeth zu ranken.
»Eines Tages ergab es sich, dass die Landgräfin Elisabeth vor der Wartburg die Reste ihrer Tafel an eine große Menge von Bettlern austeilte. Nur einen einzigen Krug Wein trug sie mit sich und ein paar Brote, viel zu wenig für die hungernden Menschen. Doch als sie den Wein ausgoss, schien es, als ginge er nie zur Neige, und auch von dem bisschen Brot, das sie hatte, wurden die Hungrigen satt. Und siehe, am Ende war von allem wieder so viel übrig, wie sie mitgebracht hatte.«
Als Elisabeth die Geschichte hörte, lächelte sie still und glücklich vor sich hin. Das war es, was sie wollte. Geben und geben und geben. Und dafür geliebt werden. Tatsächlich hatte sie es wieder so einzurichten gewusst, dass jeden Tag Arme geradewegs vor das Burgtor kamen, wie im Jahr vorher bei der großen Hungersnot. Dann verteilten wir, was die Küche an Resten hergab – natürlich ohne wundersame Vermehrung von Dünnbier und Wecken! Allerdings gebot Heinrich Raspe der Sache bald Einhalt, indem er befahl, die Leute notfalls mit Spieß und Knüppel zu vertreiben.
Eine andere Legende rankte sich bald um Elisabeth und die Kinder.
»Die Landgräfin Elisabeth hatte in ihrem Hospital viele Kleine aufgenommen, die sie so gütig und liebevoll behandelte, dass diese alle sie Mutter nannten, zusammenliefen und sie umringten, wenn sie ins Haus trat. Unter diesen liebte sie am meisten die mit Ausschlag behafteten, die schwächlichen, die schmutzigsten und die hässlichen, streichelte ihre Köpfe und zog sie in ihren Schoß. Und zum Trost für diese Kinder kaufte sie auch kleine irdene Töpfe, gläserne Ringe und tönerne Tiere. Als sie einmal von der Stadt unterhalb der Burg zurückritt und solches Spielzeug in ihrem Mantel trug, fiel alles von einem hohen Felsen über das Gestein hinunter. Doch wurde, obwohl es über den Felsen gefallen war, alles wie durch ein Wunder unversehrt und heil aufgefunden. Nachher verteilte sie es an die Kinder, und welches davon bekommen hatte, wurde wieder gesund.«
Ganz so stimmte das natürlich nicht. Nachdem Elisabeth die Sachen verloren hatte, kletterten wir mühsam den steinigen Hang hinab – wie erwartet war das meiste zerbrochen. Die wenigen Teile, die noch brauchbar waren, sammelten wir auf und verschenkten sie. Gesund wurde davon keines der Kinder, im Gegenteil, sie gab die Sachen gerade den Kränksten, von denen gleich zwei den nächsten Tag nicht überlebten. Ich erinnere mich genau, sie starben an der Abweiche. Aber so sind die Menschen eben. Sie wollen die Wahrheit einfach nicht wissen.
Die beliebteste Geschichte war die mit den Rosen:
»Es begab sich, dass die Landgräfin Elisabeth eines Tages in einem großen Korb Brot für die Armen zum Hospital hinuntertrug. Unterwegs begegnete sie ihrem Gatten, der diese Freigebigkeit nicht dulden mochte und sie
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