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Die Tore des Himmels

Die Tore des Himmels

Titel: Die Tore des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Weigand
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voll von ihren Pfändern: Ringe, Gürtel, Perlen, Silberzeug, Pelze. Natürlich löste sie sie nie wieder aus, und so kamen viele reiche Bürger Eisenachs zu dem einen oder anderen wertvollen Stück.
    Vor allem die Kinder hatten es ihr angetan. Immer mehr Kleine und Kleinste holte sie sich ins Hospital: Waisen, Missgeburten, Ausgesetzte, die keiner haben wollte, Geprügelte, Fallsüchtige und Blöde. Die Ärmsten waren so dankbar für jedes gute Wort, jede kleine Geste. Auch ich kümmerte mich mit Freuden um sie, und das kleinste Lachen machte mich glücklich. Für viele war es damals schwer zu verstehen, warum Elisabeth sich um diese Kinder kümmerte, ihre eigenen aber vernachlässigte. Täglich ließ sie sie auf der Burg unter Aufsicht einer Amme zurück, auch wenn sie manchmal weinten oder krank waren. Als ich sie einmal darauf ansprach, erklärte sie mir, dass Hermann und Sophie es gut hätten, die armen Kinder sie dagegen viel dringender bräuchten. Aber mir taten die beiden Landgrafenkinder leid, denn so klein waren sie nicht mehr, dass ihnen verborgen geblieben wäre, wie liebevoll Elisabeth sich um andere Kinder sorgte, während sie hintan blieben. Guda, Isentrud und ich versuchten, diese Lücke zu füllen, so gut wir konnten. Dennoch – damals hätte keine von uns gedacht, wie weit Elisabeth auf diesem Weg noch gehen würde. Dass sie irgendwann später so sehr die Mutter aller sein würde, dass sie die ihrer eigenen Kinder nicht mehr sein konnte. Oder war es der Einfluss dieses Teufels, der immer wieder in ihr Leben trat und sie zu dem machte, was sie wurde? Ich hoffe, Gott straft ihn, wo immer er jetzt auch sein mag.
     
    Ich selber hielt das Versprechen, das ich Primus gegeben hatte. Ich ging in die Stadt hinunter und suchte seine Familie. Weiß Gott, ich hatte schon Armut gesehen, aber dieses Elend rührte mein Herz an. Da lebte in einem düsteren ehemaligen Schweinestall eine Mutter mit drei Kindern, die nur wenige Jahre älter sein konnte als ich, sich aber bewegte wie eine Greisin. Gekleidet in schäbige Lumpen, das Haar wirr, der Mund voller schlechter Zähne, von denen schon zwei fehlten. Ihr Busen hing unter dem wollenen Hemd schlaff wie ein Lappen. Doch das Schlimmste waren ihre Augen. Trüb und hoffnungslos, traurig und leer. Als ich erzählte, dass ich ihren Sohn noch einmal zu Schmalkalden getroffen hatte, kam ein bisschen Leben in sie, und ich spürte die Liebe und die Sorge, die diese Frau für Primus empfand. Und auch für die anderen drei Kinder, die sie zärtlich an sich drückte. Dieses Weib liebt seine eigenen Kinder mehr als Elisabeth die ihren, kam mir in den Sinn. Und sie tat alles, um für sie zu sorgen. Die Älteste war sauber gekleidet, ein recht hübsches Ding von vielleicht zehn Jahren. Dann ein Bub mit grindigen Knien, der ganz offensichtlich nicht richtig im Kopf war, und noch ein kleines, verrotztes Ding mit kurzgeschorenem Haar wegen der Läuse. Allesamt knochendürr und schüchtern und barfuß, aber sie schmiegten sich vertrauensvoll und voller Zuneigung an ihre Mutter. In der Unterkunft fehlte das Notwendigste. Es gab nur eine einzige Bettstatt, die längst nicht mehr nach frischem Stroh, sondern nach Moder und Schimmel roch. Die Mäuse huschten an den Wänden entlang. Überall summten fette schwarze Fliegen herum, setzten sich auf die Gesichter, dort, wo das Feuchte der Augen war. Ich drückte der Frau ein paar Geldstücke in die Hand und sagte ihr, ich käme wieder. Sie blickte erst das Geld ungläubig an und dann mich. Sagen konnte sie nichts, aber ehe ich es verhindern konnte, nahm sie meine Hand und drückte die Lippen darauf. »Ihr seid wirklich ein guter Engel«, flüsterte sie, als ich ging.
    Mit der Zeit verstand ich besser, was Elisabeth trieb. Dieses seelentiefe Mitleid mit armen Kreaturen, dieses bedingungslose Helfenwollen, dieser unbändige Wunsch, Unglück und Elend zu lindern. Doch unter dem Eindruck dieses überbordenden Mitgefühls vergaß Elisabeth, dass sie als Regentin auch noch andere Aufgaben gehabt hätte. Und dass sie mit der Macht, die sie während Ludwigs Abwesenheit hatte, viel mehr Not hätte lindern können als mit ihrer Arbeit im Hospital. Sie hätte Steuern und Abgaben senken können, hätte verfügen können, dass den Bauern nach der Ernte genug zum Leben blieb. Sie hätte den Schultheißen der Städte befehlen können, Unterkünfte für die Unbehausten zu bauen. Sie hätte in allen größeren Orten Hospitäler einrichten lassen können.

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