Die Tote auf dem Opferstein: Kriminalroman
darauf, dass wir beiden Kindern gleichermaßen ermöglichten, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen. Sie stammte aus Holland, und ich nehme an, dass man diese Dinge dort etwas anders sieht. Und Agnes ist wahrlich nicht auf den Kopf gefallen, sie spricht fließend Holländisch.«
»Bildung von Frauenzimmern ist Verschwendung«, sagte ihr Schwiegervater und leerte sein Glas in einem Zug.
»Der Platz einer Frau ist ihr Zuhause.« Vollkommen unerwartet hatte Bryngel den Mund geöffnet.
»Selbstverständlich. Und als Ihre Ehefrau wird sie Gut Vese alle Ehre machen.«
Lieve Oma. Großmutter, liebe gute Großmutter, dachte Agnes. Sie hatte immer ihren eigenen Kopf gehabt und war keineswegs eine Frau gewesen, die sich herumkommandierenließ. Großmutter war in ihrem Heimatland Holland an Bord eines Schiffes gegangen und in Schweden gelandet, wo sie auf dem Gut Näverkärr nördlich von Lysekil den Rest ihres Lebens verbrachte. Sie hatte den Mut gehabt, zu sagen, dass Jungs es viel leichter hatten, weil man ihnen mehr Freiheiten ließ. Ihr großer Bruder Nils war auf die Landwirtschaftsschule geschickt worden, er sollte Hof und Trankocherei übernehmen.
Lief kind. Liebes Kind, hätte sie gesagt und Agnes über den Kopf gestrichen.
Het komt wel goed. Alles wird gut. Diesmal machte sich Agnes allerdings keine große Hoffnung, dass sich das Problem auf eine Weise lösen ließe, mit der sie zufrieden wäre. Und da Großmutter und Mutter nicht mehr am Leben waren, war sie auf sich allein gestellt.
Die Standuhr in der Diele schlug elf. Die Herren erhoben sich von der Tafel und nickten Agnes zu. Vergeblich versuchte sie, Bryngels Blick aufzufangen, bevor er die befrackten Männer ins Raucherzimmer begleitete. Mit schweren Schritten ging Agnes die Treppe zu ihrer Kammer hinauf.
Agnes stand im Raum und betrachtete die tänzelnden Flammen im grünen Kachelofen. Der Lichtschein erzeugte lange Schatten, die über die Tapete und die Kommode bis zu dem Himmelbett mit dem gemusterten Vorhang huschten. Seufzend wandte sie sich dem mattweißen Lehnstuhl daneben zu. Darauf hatte Großmutter immer gesessen und abends mit ihr geredet, bis es dunkel wurde. Am Ende hatte sie die Kerzen an der Wand angezündet. In deren Lichtschein sah ihr Gesicht wunderschön aus. Geliebte Großmutter. Die alte Frau hätte bestimmt Rat gewusst. Vielleicht hatte Vater recht, wenn er sagte, sie habe zu viel gelesen und zu viele Grillen im Kopf. Aber was war so falsch daran, einen eigenen Willenzu haben? Sie war Vater auf Näverkärr eine große Hilfe gewesen, das hatte er selbst gesagt. Da hatte Mutter allerdings noch gelebt, und alles war anders gewesen. Wie würde es morgen sein? Würde sie wie üblich zur Arbeit gehen, oder würde jetzt, wo sie Bryngel von Hof Vese versprochen worden war, jemand anders die Buchhaltung übernehmen? Würde Nils früher zurückkehren, hatten ihr Vater und ihr Bruder das vielleicht vereinbart, ohne ihr davon zu erzählen?
Agnes setzte sich an den Sekretär und zog die oberste Schublade heraus, in der sie ihr Tagebuch aufbewahrte. Sie überlegte eine Weile, bevor sie mit Feder und Tinte Buchstaben auf dem Papier formte.
Bryngel Strömstierna.
Agnes hatte geglaubt, dass sie etwas empfinden würde, dass es zum Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit irgendein unsichtbares Band zwischen ihr und Bryngel geben würde. Wie albern. Das einzige, was er von sich gegeben hatte, war, dass der Platz einer Frau ihr Zuhause sei. Er würde niemals zulassen, dass seine Frau als Buchhalterin arbeitete. Viele Leute in der Gegend hielten ihn für eine gute Partie, zumindest tat das ganz offensichtlich ihr Vater. War er möglicherweise genauso nervös gewesen wie sie? Agnes schloss die Augen und versuchte, sich selbst Arm in Arm mit ihm vor sich zu sehen. Mutter und Vater waren immer liebevoll miteinander umgegangen, sogar Großmutter hatte von Vater einen Gutenachtkuss auf die Wange bekommen. Doch sich von Bryngel Strömstierna küssen zu lassen und ihm zu gestatten, dass er seine Finger über ihre Haut wandern ließ? Undenkbar.
An der Tür war ein zartes Klopfen zu hören.
»Ja?« Agnes streute Sand auf das Tagebuch und klappte es hastig zu, bevor sie sich umdrehte.
Das Hausmädchen öffnete die Tür und hielt die Tranlampe in die Höhe.
»Ich habe noch Licht unter der Tür gesehen und dachte, ihr hättet vielleicht vergessen, die Kerzen auszublasen.«
»Ich habe noch gelesen.« Sie stand auf.
»Braucht ihr etwas, Fräulein Agnes?«
Agnes
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