Die tote Autorin (German Edition)
mehr gesehen, erzählte sie mir. Sie lebte in ihrem Traum, in unserem Traum. Wir wussten voneinander, liebten uns in unseren Träumen. Wir spürten uns, unsere Seelen konnten miteinander reden. Es gab keine Distanz. Nur im wirklichen Leben hatten wir uns noch nicht gefunden.»
McLee hörte aufmerksam zu. Er hatte inzwischen Loras Manuskripte gelesen und verstand ganz genau, was der Mann erzählte. Lora hatte in ihren Büchern immer wieder diesen Traum erwähnt. Sie schrieb über diese Liebe, über die Sehnsucht, die in jedem von uns steckt. Die Sehnsucht nach der verwandten Seele, die uns ergänzt, uns komplettiert, vollkommen macht. Oh ja, der Inspektor wusste ganz genau, was der Mann durchlebte. Er selbst hatte das Glück gehabt, mit Marie-Luise diese wunderbare und kostbare Liebe erleben zu dürfen, doch viele andere Menschen waren immer auf der Suche nach ihr .
«Wo waren Sie, als Lora ermordet wurde?»
In diesem Moment hasste er seinen Beruf, doch er musste diese Frage stellen. Der Mann sprach leise: «Ich glaube nicht, dass sie umgebracht wurde.»
«Wie meinen Sie das?»
Er fuhr fort: «Wir standen erst nur da, ich schaute sie an, sie schaute mich an. Ich sagte: ,Endlich habe ich dich gefunden‘, und sie antwortete: ,Es war höchste Zeit, willkommen zu Hause‘, und dabei schenkte sie mir dieses Lächeln, dieses wunderschöne Lächeln, das sie auch in meinen Träumen hatte.»
McLee beobachtete, wie das Gesicht des Mannes zu strahlen begann. Als stünde Lora auf einmal vor ihnen. Der Schmerz, die Trauer, die Ohnmacht schienen sich plötzlich aufgelöst zu haben.
«Was ist danach passiert?», drängte McLee.
Der Mann sah ihn an und lächelte: «Es war wunderschön, diese Energie, die aus uns floss, diese unendliche Liebe, die uns umhüllte, man kann es nicht beschreiben».
Mehr erzählte der Mann nicht. Zusammen gingen sie zum Steg. Wieder diese wunderschöne Stimmung, als würde Lora durch die Sonne scheinen und mit ihnen reden.
Beide schwiegen.
Lora war gestorben, weil ihre Zeit gekommen war. Und sie lächelte dabei, weil sie erfahren durfte, dass die Grenze zwischen Traum und Realität fliessend ist.
Als McLee einige Wochen später seinen Job kündigte, um mit seiner Frau das zu tun, wovon beide schon immer geträumt hatten, war er zufrieden. Lora hatte auch in seinem Leben etwas bewegt.
Weitmanns Anklage erlebte er nicht mehr. Er wurde noch am gleichen Tag, nachdem McLee ihn verhört hatte, in seiner Zelle tot aufgefunden.
Der fremde Mann lief immer noch frei herum. Vielleicht war er sogar in seinen eigenen Reihen zu suchen, doch das kümmerte McLee nicht mehr.
Die Akte Lora Florente war geschlossen.
Die Akte Lora Fiorente ebenfalls.
Aber beide Fälle hatten andere Fälle neu aufgerollt.
Als sein Nachfolger das Büro betrat, schenkte er ihm Loras fünftes Buch und wünschte ihm viel Glück. Und das würde der Neue auch brauchen, wenn er die ungeklärten Fälle untersuchen und denjenigen finden wollte, der in den eigenen Reihen falsch spielte.
McLee verliess das Präsidium und draussen kam ihm seine Frau entgegen. In der Hand eine weisse Rose.
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