Die Tote im Götakanal
daran, ob er jemals Kommissar werden würde, obwohl nur der Tod oder ein ernstliches Dienstvergehen ihn eigentlich daran hindern konnten. Er war Erster Kriminalassistent bei der Stadtpolizei und hatte acht Jahre lang der Reichsmordkommission angehört. Manche Leute waren der Meinung, daß er der geschickteste Vernehmungsleiter von ganz Schweden sei. Die Hälfte seines Lebens hatte er bei der Polizei verbracht.
Einundzwanzigjährig hatte er auf der Polizeiwache im Bezirk Jakob angefangen, und nach sechs Jahren als Streifenpolizist in verschiedenen Distrikten der Stockholmer Innenstadt hatte er die Assistentenklasse der staatlichen Polizeischule besucht. Er schnitt als einer der Besten seines Jahrgangs ab und wurde nach Abschluß des Kurses zum Kriminalassistenten befördert. Damals war er genau achtundzwanzig.
Als sein Vater im gleichen Jahr starb, gab er sein möbliertes Zimmer in Klara auf und zog zu seiner Mutter nach Söder, dem südlichen Teil von Stockholm. Im Sommerurlaub desselben Jahres lernte er seine Frau kennen. Sie hatte zusammen mit einer Freundin ein Sommerhaus auf einer Schäreninsel, wo er zufällig mit seinem Segelboot an Land ging.
Er verliebte sich in sie, und im Herbst, als sie ein Kind erwartete, heirateten sie; er zog zu ihr nach Kungsholmen hinaus.
Ein Jahr nach der Geburt der Tochter war nicht mehr viel übrig von dem frohen, lebensbejahenden Mädchen, in das er sich verliebt hatte; ihre Ehe glitt ab in trübe Alltäglichkeit.
Martin Beck saß auf der grünen Polsterbank in der U-Bahn und blickte durch das regenbedeckte Fenster hinaus. Er dachte dumpf an seine Ehe. Aber als er feststellte, daß er da saß und sich selbst bemitleidete, zog er die Zeitung aus der Tasche seines Trenchcoats und versuchte, sich auf den Leitartikel zu konzentrieren. Er sah müde aus; in dem grauen Tageslicht wirkte sein sonnenverbrannter Teint fast gelblich. Sein Gesicht mit der breiten Stirn und den kräftigen Backenknochen war mager, der Mund unter der kurzen, geraden Nase schmal und breit, mit zwei tiefen Falten an den Mundwinkeln. Wenn er lachte, sah man seine kräftigen weißen Zähne. Sein dunkles, zurückgekämmtes Haar machte noch keine Anstalten, sich grau zu färben; der Blick der graublauen Augen war klar und ruhig. Er war mager, nicht sonderlich groß und hielt sich ein wenig krumm! Es gab Frauen, die ihn für schick hielten, aber die meisten hätten sein Aussehen wohl als durchschnittlich bezeichnet. Da er sich niemals auffällig kleidete, wirkte er beinahe etwas unscheinbar.
Die Luft im Wagen war stickig und abgestanden, was ihm – wie oft in der U-Bahn – eine leichte Übelkeit verursachte. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, stand er schon mit der Reisetasche in der Hand an der Tür. Das U-Bahn-Fähren war ihm verhaßt, aber weil er Autos noch weniger mochte und die Traumwohnung in der Innenstadt nach wie vor ein Traum war, blieb er auf dieses Transportmittel angewiesen.
Der Schnellzug nach Göteborg ging um halb acht vom Hauptbahnhof. Martin Beck blätterte seine Zeitung durch, fand aber nicht eine Zeile über den Mord. Er blätterte zum Kulturteil zurück und begann einen Artikel über den Anthroposophen Rudolf Steiner; aber schon in Stuvsta schlief er darüber ein.
Gerade rechtzeitig zum Umsteigen wachte er in Hallsberg auf. Der Bleigeschmack im Mund war wieder da und wollte nicht schwinden, obwohl er drei Becher Wasser getrunken hatte.
Um halb elf kam er in Motala an; es hatte aufgehört zu regnen. Am Bahnhofskiosk kaufte er sich ein Päckchen Florida-Zigaretten und die Motala Tidning und erkundigte sich nach dem Weg zum Stadthotel, denn er war zum erstenmal in dieser Stadt.
Das Hotel lag am Stora Torget, dem Markt, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Der kurze Weg munterte ihn etwas auf. Nachdem er sich in seinem Zimmer die Hände gewaschen und ausgepackt hatte, trank er eine Flasche Medevi-Wasser, die er sich beim Portier gekauft hatte. Er stand eine Weile am Fenster und blickte auf den Platz mit dem Denkmal, dessen Statue, wie er riet, Baltzar von Platen vorstellen sollte. Dann verließ er das Zimmer, um sich auf den Weg zum Polizeihaus zu machen. Da er wußte, daß das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag, ließ er den Trenchcoat im Hotel.
Er nannte dem Wachhabenden seinen Namen und wurde sofort in ein Zimmer im ersten Stock gewiesen. AHLBERG stand an der Tür.
Der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, war breit und untersetzt und hatte eine beginnende Glatze.
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