Die Tote ohne Namen
verging kein Tag, an dem nicht eine Erinnerung in mir geweckt wurde oder ein Bild vor mir aufblitzte. Ich sah ein von Verletzungen und vom Tod aufgedunsenes Gesicht, eine gefesselte Leiche. Ich sah Leiden und Sterben in unerträglichen Einzelheiten, denn nichts blieb mir verborgen. Ich kannte die Opfer zu gut. Ich schloß die Augen und sah Fußspuren im Schnee. Ich sah Blut, so leuchtend und rot, weihnachtlich rot.
»Benton, ich will Weihnachten nicht hier verbringen«, sagte ich zutiefst deprimiert.
Ich spürte, daß er sich neben mich setzte. Er zog mich an sich, und wir hielten einander eine Weile fest. Wir konnten einander nicht nahe sein, ohne uns zu berühren.
»Das sollten wir nicht tun«, sagte ich, während wir uns weiter anfaßten.
»Ich weiß.«
»Und es ist so schwierig, darüber zu reden.«
»Ich weiß.« Er langte zur Lampe und schaltete sie aus.
»Angesichts dessen, was wir gemeinsam tun, was wir gesehen haben, sollte es nicht schwierig sein zu reden. Ist das nicht irgendwie Ironie?«
»Diese dunklen Dinge haben nichts mit Intimität zu tun«, sagte er. »O doch.«
»Warum hast du dann keine Beziehung mit Marino? Oder deinem Stellvertreter Fielding?«
»Wenn man dieselben Fälle bearbeitet, folgt daraus noch nicht logisch, daß man miteinander ins Bett geht. Aber ich glaube nicht, daß ich eine Liebesbeziehung mit jemandem haben könnte, der nicht versteht, wie es für mich ist.«
»Ich weiß nicht.« Seine Hände hielten inne.
»Sprichst du mit Connie darüber?« Ich meinte seine Frau die nicht wußte, daß Wesley und ich im letzten Herbst ein Liebespaar geworden waren.
»Ich erzähle ihr nicht alles.«
»Was weiß sie?«
»Von manchen Dingen weiß sie überhaupt nichts.« Er schwieg einen Augenblick. »Über meine Arbeit weiß sie wirklich nur sehr wenig. Ich will nicht, daß sie etwas darüber weiß.«
Ich schwieg.
»Ich will es nicht, weil es uns verändern würde. Wir wechseln die Farbe, so wie Motten es tun, wenn Städte verschmutzen. «
»Ich will nicht die schmutzige Seite unserer Welt auf mich nehmen. Ich weigere mich.«
»Du kannst dich weigern, wogegen du willst.«
»Glaubst du, daß es fair ist, deiner Frau soviel vorzuenthalten?« fragte ich ruhig. Das Denken fiel mir schwer, weil mein Fleisch glühte, wo er es berührt hatte.
»Ihr gegenüber ist es nicht fair, und mir gegenüber ist es nicht fair.«
»Aber du glaubst, du hast keine andere Wahl.« »Ich weiß, daß ich keine andere Wahl habe. Sie versteht, daß es Bereiche in mir gibt, an die sie nicht herankommen kann.« »Ist ihr das recht?«
»Ja.« Er griff nach seinem Scotch. »Noch eine Runde?« »Ja«, sagte ich.
Er stand auf, und ich hörte, wie er im Dunkeln den Schraubverschluß eines weiteren Fläschchens öffnete. Er goß den Scotch in unsere Gläser und setzte sich wieder zu mir.
»Mehr Scotch gibt es nicht. Willst du noch etwas anderes trinken?« fragte er.
»Mir ist das schon zuviel.«
»Wenn du von mir verlangst, zu behaupten, das, was wir getan haben, sei in Ordnung, das kann ich nicht«, sagte er. »Das werde ich nicht behaupten.«
»Ich weiß, daß es nicht in Ordnung ist.«
Ich trank einen Schluck, und als ich das Glas auf den Nachttisch stellte, begannen seine Hände erneut, sich zu bewegen. Wir küßten uns lange, und er verschwendete keine Zeit mit Knöpfen, seine Hände glitten über alles, unter alles, was ihnen in den Weg kam. Wir waren verrückt nacheinander, als ob unsere Kleider in Flammen stünden und wir sie uns vom Leib reißen müßten.
Später dämmerte hinter den Vorhängen der Morgen, und wir schwebten zwischen Leidenschaft und Schlaf, schalen Whiskeygeschmack im Mund. Ich setzte mich auf und zog die Bettdecke zu mir heran.
»Benton, es ist halb sieben.«
Stöhnend legte er einen Arm über die Augen, als wäre es eine Unverschämtheit, daß die Sonne ihn jetzt schon weckte. Er lag auf dem Rücken, die Bettlaken um sich geschlungen, während ich duschte und mich anzog. Durch das heiße Wasser hatte ich einen klaren Kopf bekommen. Es war der erste Weihnachtsmorgen seit Jahren, an dem ich nicht allein im Bett gelegen hatte. Ich fühlte mich wie eine Diebin.
»Du kannst nicht weggehen«, sagte Wesley halb im Schlaf.
Ich knöpfte meinen Mantel zu. »Ich muß«, erwiderte ich und sah traurig zu ihm hinunter.
»Es ist Weihnachten.«
»Im Leichenschauhaus warten sie auf mich.«
»Das tut mir leid«, murmelte er ins Kissen. »Ich wußte nicht, daß es dir so schlecht
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