Die Tote ohne Namen
geht.«
4
Das Büro des obersten New Yorker Leichenbeschauers war in der First Avenue, gegenüber dem gotischen Backsteingebäude des Bellevue-Krankenhauses, wo früher die Autopsien durchgeführt wurden. Ich sah winterlich verdorrten wilden Wein, mit Graffiti besprühte Wände, Gußeisen und prall gefüllte schwarze Abfallsäcke, die im schmutzigen Schnee darauf warteten, abgeholt zu werden. In dem verbeulten gelben Taxi lief ununterbrochen Weihnachtsmusik, bis es quietschend in der Straße hielt, in der es nur selten so still zuging.
»Ich brauche eine Quittung«, sagte ich zu dem russischen Fahrer, der mir in den letzten zehn Minuten erklärt hatte, was auf der Welt nicht stimmte.
»Über wieviel?«
»Acht.« Ich war großzügig. Es war schließlich Weihnachten.
Er nickte und kritzelte etwas auf die Quittung, während ich einen Mann beobachtete, der auf dem Gehsteig neben dem Zaun des Bellevue stand und mich unverwandt anstarrte. Er war unrasiert, hatte zerzaustes langes Haar, trug eine mit Flies gefütterte Jeansjacke, der Saum seiner schmutzigen Armeehose steckte in abgewetzten Cowboystiefeln. Er begann, eine imaginäre Gitarre zu spielen und zu singen, als ich ausstieg.
Jingle bells, jingle bells, jingle all the day. OHHH what fun it is to ride to Galveston today - AAAAAYYYYY... «
»Sie haben Verehrer«, sagte mein Taxifahrer amüsiert, als ich die Quittung durch das offene Fenster entgegennahm.
Er fuhr in einer Abgaswolke davon. Kein Mensch war zu sonst zu sehen, auch kein Auto, und der schreckliche Gesang wurde lauter. Dann stürzte mein geistig derangierter Verehrer hinter mir her. Ich war entsetzt, als er »Galveston!« zu kreischen begann, als wäre es mein Name oder eine schwere Anklage. Ich flüchtete in die Lobby des Leichenschauhauses.
»Jemand verfolgt mich«, sagte ich zu der Frau vom Sicherheitsdienst, die an einem Schreibtisch saß und nicht sehr weihnachtlich dreinblickte.
Der derangierte Sänger preßte das Gesicht gegen die gläserne Eingangstür, starrte herein, die Nase platt gedrückt, die Wangen bleich. Er riß den Mund auf, rollte obszön mit der Zunge und warf das Becken vor und zurück, als würde er mit dem Gebäude kopulieren. Die Frau vom Sicherheitsdienst - sie war stämmig und hatte Dreadlocks - ging zur Tür und schlug mit der Faust dagegen »Benny, verschwinde!« rief sie ihm zu. »Hör sofort auf damit, Benny.« Sie schlug fester zu. »Oder ich komme raus.«
Benny trat von der Tür zurück. Plötzlich war er Nurejew, der auf der verlassenen Straße Pirouetten drehte.
»Ich bin Dr. Kay Scarpetta«, sagte ich zu der Frau. »Dr. Horowitz erwartet mich.«
»Ausgeschlossen, daß der Chief Sie erwartet. Es ist Weihnachten.« Sie sah mich an aus dunklen Augen, die alles gesehen hatten. »Dr. Pinto hat Bereitschaft. Wenn Sie wollen, versuche ich, ihn zu erreichen.« Sie schlenderte zurück zu ihrem Schreibtisch.
»Ich weiß sehr wohl, daß Weihnachten ist« - ich folgte ihr -, »aber Dr. Horowitz ist hier mit mir verabredet.« Ich holte meine Brieftasche heraus und hielt ihr die goldene Plakette hin, die mich als Chief Medical Examiner identifizierte.
Sie war nicht beeindruckt. »Waren Sie schon einmal hier?«
»Mehrmals.«
»Hm. Den Chief habe ich heute jedenfalls noch nicht gesehen. Kann allerdings gut sein, daß er durch die Krankenwageneinfahrt hereingekommen ist und sich nicht bei mir gemeldet hat. Manchmal sind sie schon stundenlang da, ohne mir Bescheid zu sagen. Hm. Klar, mir muß man ja nicht Bescheid sagen.«
Sie griff nach dem Teläfonhörer. »Hm. Nein, Sir, ich muß es ja nicht wissen.« Sie wählte. »Ich brauch überhaupt nichts zu wissen, ich doch nicht. Dr. Horowitz? Hier ist Bonita vom Sicherheitsdienst. Hier ist eine Dr. Scarlett.« Sie schwieg. »Weiß ich nicht.«
Sie sah mich an. »Wie schreiben Sie sich?«
»Scarpetta«, buchstabierte ich geduldig.
Sie schaffte es noch immer nicht, war aber schon näher dran. »Ja, Sir, mache ich.« Sie legte auf und wandte sich mir zu. »Sie können sich dort drüben hinsetzen.«
Das Wartezimmer war grau eingerichtet und mit einem grauen Teppich ausgelegt, Zeitschriften lagen auf den grauen Tischen, ein kleiner Weihnachtsbaum aus Plastik stand in der Mitte des Raums. Auf einer marmornen Wand las ich die Inschrift:
Taceant Colloquia Effugiat Risus Hic Locus Est Ubi Mors Gaudet Succurrere Vitae.
Was ungefähr hieß, daß es hier, wo der Tod mit Freuden den Lebenden zu Hilfe kam, wenig zu reden und nichts zu
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