Die Tote ohne Namen
lachen gab. Ein asiatisches Paar saß mir gegenüber auf einer Couch und hielt sich an den Händen. Sie sprachen nicht und blickten auch nicht auf, Weihnachten würde für sie von nun an eine schmerzliche Erinnerung sein.
Ich fragte mich, warum sie hier waren und wen sie verloren hatten, und ich dachte an alles, was mich meine Arbeit gelehrt hatte. Ich wünschte, ich hätte sie irgendwie trösten können. Aber nach so vielen Jahren Berufserfahrung konnte ich den Hinterbliebenen meist nicht mehr sagen, als daß der Tod schnell gekommen war und die Verstorbenen nicht gelitten hatten. Für gewöhnlich stimmte nicht einmal das, denn wie sollte man die seelischen Qualen einer Frau ermessen, die sich in einem einsamen Park in einer bitterkalten Nacht nackt ausziehen mußte? Wie konnte man sich vorstellen, was sie gefühlt hatte, als Gault sie zu dem eisigen Brunnen führte und die Pistole an ihre Schläfe hielt?
Daß er sie gezwungen hatte, sich auszuziehen, sollte uns an seine abgrundtiefe Grausamkeit und an seinen unersättlichen Appetit auf Spielereien erinnern. Daß sie nackt war, das war nicht nötig gewesen. Es war nicht nötig gewesen, ihr so klipp und klar zu verstehen zu geben, daß sie allein an Weihnachten sterben und niemand ihren Namen erfahren würde. Gault hätte sie einfach erschießen können. Er hätte seine Glock ziehen und sie erschießen können, ohne daß sie es mitbekam. Der Scheißkerl.
»Mr. und Mrs. Li?« Eine weißhaarige Frau stand vor dem asiatischen Paar.
»Ja.«
»Wenn Sie soweit sind, werde ich Sie jetzt hinführen.« »Ja, ja«, sagte der Mann, und seine Frau begann zu weinen.
Sie entfernten sich in Richtung des Raumes, wohin die Leiche eines Menschen, den sie geliebt hatten, mit dem Aufzug aus der Autopsie heraufgebracht würde. Viele Menschen konnten den Tod nicht akzeptieren, bevor sie ihn nicht gesehen oder berührt hatten, und trotz der vielen Termine dieser Art, die ich arrangiert und denen ich beigewohnt hatte, konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, selber dieses Ritual auf mich zu nehmen. Ich glaubte nicht, daß ich diesen letzten flüchtigen Blick durch eine Glasscheibe ertragen könnte. Ich hatte leichte Kopfschmerzen, schloß die Augen und massierte meine Schläfen. So saß ich lange da, bis ich die Gegenwart eines anderen Menschen spürte.
»Dr. Scarpetta?« Dr. Horowitz' Sekretärin stand vor mir und sah mich besorgt an. »Geht es Ihnen nicht gut?«
»Emily«, sagte ich überrascht. »Nein, alles in Ordnung. Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, Sie heute hier zu sehen.«
Ich stand auf. »Möchten Sie ein Aspirin?«
»Das ist sehr nett von Ihnen, nein danke.«
»Ich hatte Sie auch nicht erwartet. Aber im Augenblick ist die Lage wohl nicht normal. Mich wundert, daß Sie hierherkommen konnten, ohne von Reportern belästigt zu werden.«
»Mir ist kein Reporter über den Weg gelaufen«, sagte ich.
»Letzte Nacht hat es von ihnen nur so gewimmelt. Ich nehme an, daß Sie heute morgen die Times gelesen haben.«
»Ich fürchte, dazu hatte ich noch keine Gelegenheit.« Mir war unbehaglich zumute. Ich fragte mich, ob Wesley noch im Bett lag.
»Es ist ein großes Durcheinander«, sagte Emily, eine junge Frau mit langem dunklem Haar, die sich stets so sittsam und unauffällig kleidete, als stammte sie aus einem anderen Zeitalter. »Sogar der Bürgermeister hat angerufen. Das ist nicht die Art von Publicity, die sich die Stadt wünscht oder die sie brauchen kann. Ich kann immer noch nicht glauben, daß ausgerechnet ein Journalist die Leiche gefunden hat.«
Ich warf ihr einen scharfe n Blick zu. »Ein Journalist?«
»Eigentlich ist er Korrektor oder so was Ähnliches bei der Times - einer dieser Verrückten, die joggen, egal wie das Wetter ist. Deswegen war er gestern früh im Park und läuft an Cherry Hill vorbei. Es war kalt und verschneit und einsam. Er kommt zu dem Brunnen und sieht dort die arme Frau. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß die Beschreibung in der Zeitung sehr detailgenau ist. Die Menschen sind außer sich vor Angst.«
Wir gingen durch mehrere Türen, dann steckte sie den Kopf in das Zimmer des Chiefs und meldete uns leise an, damit wir ihn nicht erschreckten. Dr. Horowitz war nicht mehr der jüngste und sein Gehör nicht mehr das beste. In seinem Büro roch es nach blühenden Pflanzen. Er liebte Orchideen, Usambara-Veilchen und Gardenien, und unter seinen Händen gediehen sie.
»Guten Morgen, Kay.« Er stand von seinem Schreibtisch auf. »Bist du
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