0821 - Grauen aus dem Meer
Sein Gesang brach ab. Shadongooro vom Volk der-Yolngu löste sich aus der Traumzeit. Er fror trotz der sommerlichen Hitze. Er hatte etwas gesehen, das unglaublich war.
Der alte Wollongoau und Showollanguonu, den sie »Wolly« nannten, sahen sich an. Der Alte berührte Shadongooro mit der flachen Hand an der Stirn.
»Teilst du deinen Traum mit uns?«, bat er leise.
Shadongooro sah ihn an. Seine Pupillen waren klein geworden. Das gab seinen Augen ein seltsames Leuchten.
Nein, sagte sein Blick.
Die beiden anderen bedrängten ihn nicht. Wann immer er es für richtig hielt, würde er ihnen seinen Traum singen. Es spielte keine Rolle, ob dies gestern, heute oder morgen geschah. Für die Traumzeit war es unwichtig. In ihr gab es nur das Immerwährende, das keine Herzschläge zählte.
Und wenn er schwieg und den Traum in seinem Inneren verbarg, war auch das gut. Alles war gut.
Die beiden Stammesbrüder hätten nicht so gedacht, wenn sie gewusst hätten, was Shadongooro gesehen hatte. Er verbarg es vor ihnen, um ihre Seelen zu schützen. Nichts war gut. Doch sie konnten ihm nicht helfen, sie nicht und auch keiner der anderen. Nicht einmal, wenn sie sich alle zusammenfanden.
Doch es gab jemanden, mit dem Shadongooro darüber reden musste. Ein Weißbursche aus dem fernen Europa.
Der Mann mit dem Silberzeichen.
Professor Zamorra.
»Ich muss gehen«, sagte Shadongooro.
»Du wirst nicht mit uns essen?« Wolly wies auf den dritten Clansmann, der seinen Wanderstock über der Schulter trug; am Ende des Stockes hing ein Ameisenigel, den Showollanguono vor knapp einer Stunde mit dem Bumerang erlegt hatte.
»Ich muss gehen«, wiederholte Shadongooro.
»Du wirst zurückkehren?«
»Irgendwann«, sagte er. »Ich werde doch meine Freunde nicht im Stich lassen. Selbst, wenn alles anders wird als es jemals war.«
Er wandte sich ab und schritt davon, hinein in den roten Sand der Wüste, einem unsichtbaren Pfad folgend. Leise sang er sich seinen Weg.
»Was meint er damit?«, fragte Wollongoau. Showollanguono verzog das Gesicht.
»Er hätte es uns bestimmt gesagt, wenn es wichtig für uns wäre. Er kommt und geht wie der Wind. Er ist einer, der zwischen den Welten lebt.«
Zwischen der traditionellen uralten Lebensweise des-Yolngu-Volkes und der Art, wie die Weißburschen lebten, deren Vorfahren einst die Ureinwohner dieses weiten Landes wie Tiere gejagt und getötet hatten und die den Fkktor Zeit mit sich brachten; etwas, das es in der Traumzeit nicht gab.
»Manchmal«, sagte der alte Wollongoau, »ist er doch sehr seltsam, unser Freund.«
Dessen Schatten verblasste, so wie seine Gestalt mit dem Horizont verschmolz und sein Lied aus der Ferne niemand mehr vernehmen konnte.
***
Professor Zamorra lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Deine Freundin«, murmelte er.
»April? Was ist mit ihr?«, fragte Nicole Duval, seine Lebensgefährtin, Sekretärin und Kampfpartnerin in den immerwährenden Auseinandersetzungen mit den dunklen Mächten. Sie strich sich durch das Haar, diesmal in grellstem Rot und mit wilden Locken. Zamorra wusste, dass es nicht ihr Echthaar war, sondern eine der unzähligen Perücken, mit denen Nicole sich ein ständig wechselndes Aussehen gab.
Vielleicht, hatte er schon oft überlegt, sie aber nie danach gefragt, wollte sie damit für ihn immer wieder eine andere Frau sein, die es zu entdecken galt. Aber er sah nicht auf das Äußere, er sah die Summe ihrer Eigenschaften. Natürlich gefiel es ihm, dass sie außerordentlich attraktiv war und als Schauspielerin oder Model eine bessere Karriere hätte machen können denn als seine Sekretärin, aber noch mehr gefiel ihr alles, was sie darstellte, was ihre Seele war.
Und alles an ihr liebte er.
Liebte es, liebte Nicole wie nichts und niemanden sonst auf der Welt; im ganzen Multiversum!
Mit geschlossenen Augen tastete er nach ihrem Gesicht. Seine Fingerspitzen berührten es sanft, formten Konturen nach.
»Sie müsste allmählich auftauchen«, sagte er. »Ihre-Yacht ist doch verteufelt schnell. Selbst wenn sie sich auf der anderen Seite der Erdkugel aufhält - nach einer Woche müsste sie die Strecke zurückgelegt haben.«
»Sie hat versprochen, zu kommen, also wird sie es auch tun«, sagte Nicole.
Er fühlte ihr Lächeln unter seinen Fingern.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte er.
»Wir wissen nicht, wann der Dämon durch das Tor kommen und die Traumzeit manipulieren will«, widersprach Nicole. »Es kann heute sein, morgen, oder in tausend
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