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Die Tote von Harvard

Die Tote von Harvard

Titel: Die Tote von Harvard Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Cross
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gerade vor einem liegende Ziel – der nächste Job, die nächste Veröffentlichung, Liebesaffäre, Ehe – alles Glück der Welt bereitzu-9

    halten. Aber ist das Ziel einmal erreicht, stellt sich diese Befriedi-gung nicht ein, zumindest nicht auf lange Sicht. Egal, wie sehr man auch versucht, alle Segnungen zu genießen – Muße, Gesundheit, Geld, ein Zimmer für sich allein –, immer kommt man an den Punkt, wo man wieder nach vorn starrt, aufs nächste Ziel. In ihrer Kindheit hatte Kate dieses Phänomen bei den Freundinnen ihrer Mutter beobachtet, die ständig umzogen und irgendwelche Häuser oder Appartements neu einrichteten. Wo es keine wirkliche Not zu überwinden gilt, schafft man sich künstliche Nöte. Vielleicht ist das die Haupt-krankheit unserer Zeit. Deshalb fragt sich jeder: Was jetzt, welchem neuen Ziel, welchem Vorhaben soll ich mich als nächstes verschrei-ben?
    Während Kate sich einen zweiten Martini mixte und den Gedanken ans Abendessen aufschob, fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht durch irgendwelche dunklen Mächte, gegen die, wie die Eklektiker sagen, menschlicher Wille nichts ausrichtet, verlockt worden war, Verbrechen aufzuklären. Mit Reeds Hilfe natürlich. Hatten eigentlich alle Menschen Freunde oder Bekannte, die ständig in Dramen von Tod und Leidenschaft verstrickt waren? Doris Lessing hatte kürzlich geschrieben, der Roman sei dabei, die Fessel des Realismus abzuschütteln, »denn das, was um uns herum geschieht, wird täglich wilder, fantastischer und unglaublicher«. Kate glaubte ihr.
    Es war jedoch schon lange her, seit sie das letzte Mal Detektivin gespielt hatte. Keiner wünschte sich Leichen herbei. Es gab weiß Gott genug Gewalt in der Welt. Was wollte sie also? Vielleicht das Gefühl haben, daß sie noch in den Lauf der Dinge eingreifen und die Welt, wenn auch nur minimal, menschlicher machen konnte. Reed und Kate waren zwar durch Kontinente voneinander getrennt, ver-folgten aber das gleiche Ziel. Während er aktiv eingriff, saß sie an Konferenztischen, umgeben von aufgeblasenen Männern. Zum ersten Mal in ihrem den Geisteswissenschaften gewidmeten Leben fragte sie sich, welcher Sinn darin lag.
    Immerhin schaffte sie es, sich aufzuraffen. Sie nahm das Glas mit in die Küche und beschloß zu essen. Nein, um die Todsünde geistiger und moralischer Trägheit ging es nicht, dachte sie, während sie mit einer Gabel die Eier verrührte; viel eher um das, was die Franzosen aboulie nennen: L’absence morbide de volonté. Unsinn, murrte Kate, und stellte die Omelettpfanne auf den Herd. Wenn du nicht aufpaßt, hörst du dich bald an wie eine von George Eliots entschluß-
    losen Heldinnen, über die du endlose Vorlesungen hältst. Mir we-10

    nigstens, dachte Kate, hat man beigebracht, auf Gott zu vertrauen und darauf zu warten, daß SIE sich meiner annimmt.
    Als Kate am nächsten Nachmittag vor ihrem Büro ankam, um ih-re Studentensprechstunde abzuhalten, stand eine Frau gegen die Tür gelehnt. Neben ihr saß, auf den Hinterbeinen kauernd, die Vorderpfoten nach vorn gestreckt und so, als koste ihn diese Ruhestellung all seine Willenskraft, ein großer weißer Bullterrier, die Sorte Tier, die Kinder als Vorbild nehmen, wenn sie einen Hund malen sollen.
    Kate erinnerte sich vage an das Schild neben der Eingangstür zur Baldwin Hall: Hunde nicht erlaubt.
    »Sie sind Kate«, sagte die Frau. Ob das eine Frage oder Feststellung sein sollte, war unklar. Kate kramte nach ihrem Schlüssel und nickte. Mit einem Ruck, der drohend aussah, erhob sich der Hund.
    »Sitz, du Luder«, sagte die Frau leise. »Kann ich Sie einen Moment sprechen? Haben Sie Angst vor Hunden? Ich kann Jocasta auch draußen lassen.«
    »Kommen Sie herein«, sagte Kate. »Und bringen Sie, ehm, Jocasta mit.« Zusammen betraten sie den Raum. Kate fand, daß Jocasta nicht so aussah, als wüßte sie die Einladung zu schätzen.
    »Danke«, sagte die Frau. Sie zog ihre Daunenjacke aus; darunter kamen ein T-Shirt mit einem Bild von Virginia Woolf und eine Ar-beitshose zum Vorschein. Ihr langes Haar hing glatt bis auf die Schultern. Sie trug eine große Brille und hatte die Bewegungen einer Frau, die all die vorsichtigen kleinen Gesten, die gemeinhin als weiblich gelten, endgültig hinter sich gelassen hatte. Ende Dreißig, dachte Kate, vielleicht auch Anfang Vierzig, zum Teufel, welche Rolle spielte das?
    »Setzen Sie sich doch.«
    »Ich heiße Joan Theresa«, sagte die Frau und ließ sich auf den Stuhl vor Kates Schreibtisch

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