Die Tote von Harvard
war noch fast hell. Wie Andy, stellte Kate fest, war Moon in der Gesellschaft von Frauen völlig entspannt; erst später fiel ihr auf, daß sie noch nie einen anderen Mann im Café gesehen hatte. Moon ist älter als Andy, dachte Kate dann; an ihm ist diese Haltung ursprünglicher und liebenswerter.
Nach einer Weile schoben sie ihre Stühle zurück und, o Wunder, sie sprachen nicht über Harvard. »Ich sing dir ein Lied«, sagte Moon,
»um dir deinen Rauch zu ersetzen.« Und er spielte und sang Lieder, die Kate nicht kannte und sich vermutlich auch nicht merken würde; aber das spielte keine Rolle. Sie fühlte sich aufgehoben und gut.
Auch Jocasta draußen vor dem Fenster hatte alle Gedanken ans Essen aufgegeben und sich lang ausgestreckt.
Als es dunkel war, Aufwiedersehen gesagt und Adressen ausge-tauscht worden waren, machten sich die beiden, Moon und Kate, auf den Heimweg, die Hampshire Street hinunter zur Cambridge Street, von der Cambridge zur Maple, die Maple hinunter zum Broadway, weil Kate eine Freundin hatte, die in der Maple Street wohnte, und sie plötzlich das Bedürfnis überkam, an ihrem Haus vorüberzugehen
– dann den Broadway hinunter zur Prescott, am Warren-Haus vorbei, um sich von ihm zu verabschieden – und »guten Tag« zu sagen, hatte Moon gemeint, denn während des ganzen Jahres hatte er das Haus nicht betreten –, die Quincy Street hinunter zur Mass Avenue und die Mass Avenue entlang zum Harvard Square. »Mein Auto steht unten auf dem Parkplatz«, sagte Moon. »Aber ich bring dich noch nach Hause, ehe ich losfahre.«
»Du willst doch nicht sagen, daß du jetzt gleich nach Minneapolis fährst, mitten in der Nacht?«
»Doch, genau das«, sagte Moon. »Wenn ich müde werde, halte ich irgendwo an und schlafe.«
»War es nicht besser, morgen früh aufzubrechen?« fragte Kate.
»Doch«, sagte Moon.
»Sylvia ist wieder in Washington. Warum fährst du nicht morgen früh los, im Morgengrauen vielleicht?«
»Warum nicht?« sagte Moon und schulterte wieder seine. Gitarre. So gingen sie gemeinsam die Mount Auburn Street entlang.
Wann würden sie sich wohl wieder begegnen, überlegte Kate. Har-160
vard war Moons letzter Flirt mit dem Establishment gewesen. Und würde sie wohl je nach Minneapolis kommen? Sie sagte Moon ihre Gedanken. »Das spielt keine Rolle«, sagte Moon. »Es gibt nur das Jetzt. Es hat immer nur das Jetzt gegeben, aber erst in unserem Alter wissen wir es.«
Die Abschlußfeierlichkeiten im Harvard des Jahres 1979 waren erträglicher, als Kate zu hoffen gewagt hatte. Zum einen hatte man sie, im Gegensatz zu Leightons Eltern, nicht aufgefordert, an der Gartenparty, der komödiantischen Aufführung des Studententhea-ters, dem Picknick der Doktoranden und dem Empfang der Magister teilzunehmen. Sie saß auf ihrem guten Platz unter den alten Bäumen des Campus und beobachtete, wie die Examinierten, die Professoren und die Fakultätsmitglieder, die ein Ehrentitel erwartete, Einzug hielten. Die einzigen Reden wurden von Studenten gehalten, eine von einem Examensstudenten der juristischen Fakultät – in Latein –, die beiden anderen von einer Studentin und einem Studenten der unteren Semester. Während Kate den Reden zuhörte, erinnerte sie sich an eine Begebenheit bei den Abschlußfeierlichkeiten des Jahres 1969, von der sie gelesen hatte. Auch damals richtete ein Jurastudent das Wort an die versammelte Menge. Hier, unter denselben Bäumen, hatte er seine Rede mit einem Ruf nach Recht und Ordnung begonnen: »Auf den Straßen unseres Landes herrscht Aufruhr. An unseren Universitäten rebellieren subversive Kräfte. Die Kommunisten wollen unser Land zerstören. Rußland bedroht uns mit seiner Über-macht. Unser Land ist in Gefahr. Ja, in Gefahr von innen und von außen. Wir brauchen Recht und Ordnung! Ohne Recht und Ordnung kann unsere Nation nicht überleben.« Nach heftigem Beifall fuhr der Jurastudent fort: »Diese Worte wurden 1932 von Adolf Hitler gesprochen.« Kate hätte viel darum gegeben, die Stille zu hören, die dann gefolgt war.
Jetzt trat keine Stille ein, alle applaudierten. Dann begann die Verleihung der akademischen Grade. Eine Frau erhielt eine Auszeichnung, eine Wissenschaftlerin, die Kate und – wie sie der Reaktion der Leute um sie herum entnahm – auch allen anderen unbekannt war. Sie und die Studentin, die eine der Reden gehalten hatte, waren die einzigen Frauen, die das Podium betraten. Gutes, altes Harvard, dachte Kate.
Zwischendurch gab es
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