Die Tote von San Miguel
in Sylvias Augen zurückkehrte, sich wie der Gischtschleier eines Wasserfalls über ihren Geist legte. Die Trauer war fort gewesen, solange sie über ihr und Amandas früheres Leben in San Miguel gesprochen und sich an den Alltagstrott erinnert hatte, an all die unbedeutenden Kleinigkeiten. Doch das alles hatte irgendwann gestern Nacht sein Ende gefunden.
»Gestern Morgen ist Amanda mit dem Flugzeug aus Dallas zurückgekommen. Sie ist da einmal im Monat hingeflogen. Ich glaube, ihr Vater ist schwerkrank, auch wenn sie kaum jemals darüber gesprochen hat. Ich habe sie abgeholt, als sie mit dem Bus vom Flughafen in Guanajuato gekommen ist, und dann sind wir losgezogen, um fürs Abendessen einzukaufen. Aber sie ist irgendwie nicht ganz bei der Sache gewesen. Einen Moment lang aufgedreht, dann wieder völlig in sich versunken. Ich habe mir gedacht, dass es ihrem Vater vielleicht nicht gutgegangen ist.«
»Haben Sie sie darauf angesprochen?«
»Nein. Ich wollte nicht, dass sie mich anfaucht. Amanda konnte ziemlich jähzornig werden, besonders wenn es um persönliche Dinge ging. Nachdem wir in unser Apartment zurückgekehrt waren, sagte sie, dass sie noch einmal im Instituto de Bellas Artes vorbeischauen müsste, um zu sehen, wie die Arbeitsschichten eingeteilt worden waren. Sie hat dort gemodelt. Ich nehme an, dass Sie das wahrscheinlich schon wissen. Sie ist gut dafür bezahlt worden. Und sie hat ihren eigenen Körper geliebt.«
Sylvia schwieg einen Moment lang, vielleicht um eine bestimmte Erinnerung an Amandas Körper festzuhalten, bevor sie fortfuhr. »Wir wollten uns zum Abendessen hierwieder treffen, aber sie ist nicht gekommen. Ich habe angenommen, dass sie auf irgendeine Party gegangen ist. Amanda hat Partys geliebt. Ich hasse Partys.«
Diaz nickte mitfühlend. Er hasste Partys ebenfalls.
»Als es mir zu langweilig geworden ist, auf Amanda zu warten, bin ich runtergegangen und habe ein paar Biere mit Bobby und Jim getrunken. Dann habe ich mich schlafen gelegt. Ich hatte einen Alptraum, und als ich daraus aufgewacht bin, hatte ich eine böse Vorahnung.«
Sie leckte sich über die trockenen Lippen. »Draußen war es stockdunkel. Ein kalter Nebel ist ins Zimmer gekrochen, weil ich die Tür für Amanda offengelassen hatte. Aber sie war nicht zurückgekommen. Also habe ich die Tür zugemacht und eine Kerze angezündet, weil ich Angst hatte. Dann muss ich wieder eingeschlafen sein.«
»Aber heute Morgen haben Sie die Polizei angerufen«, sagte Diaz. »Da wussten Sie bereits, dass Amanda tot war.«
»Als ich aufgewacht bin, hatte sich der Nebel aufgelöst. Die Sonne hat hell und ganz normal geschienen, so wie sie es hier immer tut. Amandas Seite des Bettes war immer noch unberührt. Es war nicht das erste Mal, dass sie über Nacht fortgeblieben ist.«
Sie machte eine Pause, um über irgendetwas nachzudenken. Dann kam sie zum Ende. »Ich habe mich irgendwie verkatert gefühlt und deshalb vier Gläser Wasser getrunken. Danach habe ich mich mit einem Buch in die Sonne gesetzt. Dann ist Jimmy mit einem Exemplar der Atención hochgekommen. So habe ich erfahren, dass Amanda tot war. Durch eine schäbige Schlagzeile in der Zeitung. Ich habe die policía von einem Münztelefon unten an der Straße angerufen.«
»Haben Sie irgendeine Idee, wer vorgehabt haben könnte, Amanda etwas anzutun?«
Sylvia schüttelte den Kopf. Wieder rannen ihr Tränen die Wangen hinab.
Diaz zog ein Taschentuch aus einer Jackentasche, stellte fest, dass es sauber war, und reichte es ihr. »Vielen Dank für Ihre Zeit, señorita . Es tut mir schrecklich leid. Bitte rufen Sie mich an, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.«
»Ich habe sie geliebt«, flüsterte Sylvia.
Am Fuß der Treppe stieß Diaz laut die Luft aus. Bobby und Jim waren verschwunden. Ortiz lehnte an der Hauswand aus Adobeziegeln, säuberte sich gewissenhaft mit einer kleinen Nagelfeile einen Fingernagel nach dem anderen und glättete gekonnt ihre Ränder.
Diaz ging an ihm vorbei auf die Straße hinaus. Ortiz ließ die Nagelfeile in seiner Tasche verschwinden und folgte ihm eilig. Als sie nebeneinander durch die Stadt gingen, sah Diaz ihn an und sagte: »Weißt du, Roberto, falls du es als Bulle zu nichts bringen solltest, kannst du dir immer noch einen Job als Maniküre besorgen.«
Kapitel 6
Diaz’ Mobiltelefon klingelte, während er mit Ortiz zu Mittag aß. Es war Sergeant Armando Ruiz, der anrief, um Diaz mitzuteilen, dass das Pärchen, das er hatte befragen
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