Die Tote von San Miguel
sollen, nicht im Hotel war. Doch wie er Diaz versicherte, hatten die beiden noch nicht ausgecheckt.
Der Inspector warf einen Blick auf seine Rolex, ein Geschenk seiner Exfrau. Zwei Wochen, nachdem sie ihm die Uhr geschenkt hatte, reichte sie wegen seelischer Grausamkeit die Scheidung ein. Die Rolex aber war auch sieben Jahre später noch immer eine gute Uhr, ein klassisches Modell. Ihr automatisches Federwerk bannte Diaz’ ständige Angst davor, an eine defekte Batterie zu geraten, die im entscheidenden Augenblick versagte. Was ihn natürlich nicht davon abhalten konnte, irgendetwas anderes zu finden, das ihm Unbehagen bereitete.
Als Reyna ihm die Uhr überreicht hatte, verpackt in schickes Silberpapier, war das Scheitern ihrer Ehe schon allgemein bekannt gewesen. Nur wenige Ehen überstanden den Tod eines Kindes, das im Alter von zwölf Jahren durch eine verirrte Kugel in der Silvesternacht den Tod fand. Letzte Woche hätte Estella ihren 19. Geburtstag gefeiert.
Diaz fragte sich ständig, weshalb ihm seine Frau zu diesem Zeitpunkt ein derart teures Geschenk gemacht hatte. Vielleicht hatte sie ein günstiges Angebot von ihrem Onkel bekommen, der ein Pfandleihgeschäft in Leon betrieb. Vielleicht aber auch aus Schuldgefühlen heraus, weil sie schon damals mit Diaz’ Nachfolger geschlafen hatte.
»Armando, es ist jetzt drei Stunden her, seit wir das Büroverlassen haben«, sagte er. »Wie kommt es, dass du mich erst jetzt über dieses Problem informierst?«
»Carmen hat mich voller Panik angerufen, gleich nachdem du gegangen warst. Sie dachte, sie würde eine weitere Fehlgeburt erleiden. Ich musste sofort nach Hause, um sie zum Arzt zu bringen. Er hat gesagt, es wäre nur eine Verdauungsstörung. Gott sei Dank! Sie ist jetzt wieder zu Hause. Aber als ich endlich im Hotel angekommen war, waren señor Bremmer und señora Domingue ausgegangen, um sich mit irgendjemandem zum Essen zu treffen.«
Ja, Gott sei Dank , dachte Diaz. Armandos Frau hatte bereits zwei Kinder durch Fehlgeburten verloren. Eine dritte Fehlgeburt innerhalb von nicht einmal zwei Jahren hätte ihre Ehe bestimmt nicht verkraftet. Die gesamte Judiciales -Truppe drückte ihnen die Daumen.
»Haben sie an der Rezeption Bescheid gesagt, wann sie zurück sein werden?«, wollte er wissen.
»Nein.«
»Dann warte solange in der Lobby, bis sie wieder auftauchen.«
»Ja, jefe .«
Armando war ein gewissenhafter Bulle, wie Diaz wusste. Er setzte nur die Prioritäten falsch. Oder vielleicht auch nicht. Diaz fragte sich, ob er heute immer noch verheiratet sein würde, wenn er sich damals nicht in seine Arbeit vergraben hätte. Aber wäre er überhaupt noch gern mit Reyna verheiratet? Und was war mit Martina? Unbeantwortete Fragen, die eine ganze Palette verworrener emotionaler Seitenpfade und Sackgassen eröffneten.
Er stopfte sich einen weiteren Brocken gegrillten cabrito in den Mund und schob eine eingelegte jalapeño- Scheibe hinterher. Letztere rief ein geradezu erotisches Kribbeln inseinem Gaumen hervor. »Ruf mich an, wenn die beiden wieder auftauchen«, sagte er und trennte die Verbindung.
»Hat Armando wieder Scheiße gebaut?«, erkundigte sich Ortiz.
»Ich möchte das Thema nicht weiter vertiefen«, erwiderte Diaz ausweichend.
Ortiz stierte zur offenen Tür des Restaurants hinaus, wo gerade eine aufgedonnerte Sekretärin vorbeischlenderte, deren extralange Beine durch einen extrakurzen Rock zusätzlich betont wurden. Ihre hohen Absätze kippelten prekär auf dem unebenen Pflaster des Bürgersteigs. »Und wie würde es dir gefallen, dich stattdessen in das da zu vertiefen?«, fragte er.
Vielleicht spürte die Frau, dass sie von zwei männlichen Augenpaaren ausgezogen wurde, jedenfalls drückte sie die Schultern gerade durch und beschleunigte ihre Schritte.
Diaz nickte weise, enthielt sich aber jeden Kommentars, während seine Blicke an den wohlgeformten Rundungen des Frauenhinterns klebten, bis er außer Sicht verschwand. Es ziemte sich nicht unbedingt für den Leiter der Mordabteilung der Policía Judicial von San Miguel, sich in lüsternen Bemerkungen über die vorbeidefilierende Fauna zu ergehen. Schließlich war dies das neue Jahrtausend. Die Geschlechter hatten eine bis dato unbekannte Gleichheit erreicht, die nahezu an Brüderlichkeit grenzte. Außerdem musste er die Position Felicias, der neuen Innendienstmitarbeiterin, berücksichtigen. Wie attraktiv sie auf ihre etwas burschikose Art auch sein mochte, in drei Monaten würde sie die
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