Die Tote von San Miguel
neue angehende Ermittlerin der Einheit sein, bewaffnet mit einer Glock neun Millimeter wie alle ihre Kollegen auch.
Diaz wischte sich den Mund mit einer Papierserviettevon der Größe einer Briefmarke ab, knüllte sie zusammen, warf sie zu den Essensresten auf seinem Teller und zündete sich eine Zigarette an. Was hatten sie bisher? Ein totes amerikanisches Hippiemädchen, dem die Augen herausgerissen worden waren. Eine junge Frau, die ihr Geld als künstlerisches Modell verdient und mit mindestens einer Frau geschlafen hatte, vielleicht auch mit anderen Frauen und/oder Männern. Claro , sie war eine Frau gewesen, die sich, um es mit Sylvia Gates’ Worten zu sagen, in San Miguel gut ausgekannt hatte. Bis sie zu tief in irgendetwas hineingeraten war.
Es lag ein Hauch von sexueller Perversion in der Luft. Möglicherweise eine tief verwurzelte und abartige Obsession, die in der Gestalt von Mord und Verstümmlung durch die Oberfläche gebrochen war. Es wurde allmählich Zeit, dem Instituto de Bellas Artes einen Besuch abzustatten.
»Dann fick dich doch selbst!«
Die schlanke junge Frau, die diese anatomisch schwer in die Tat umzusetzende Aufforderung äußerte, wirbelte herum und stürmte an Diaz vorbei. Sie hielt ihren Körper dabei so steif und unnachgiebig wie ein frisch gestärktes Hemd.
Das Ziel ihres Zorns war ein Mann mit schütter werdendem Haar, einem Ziegenbart und verschlagenen Augen, der hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch saß. Wäre Diaz gefragt worden, hätte er ihn auf Anfang fünfzig geschätzt. Der Mann nahm die Beschimpfung ohne eine erkennbare Gemütsregung hin, während seine Lippen irgendeine beleidigende Erwiderung murmelten, die ihm leider zu spät eingefallen war, als dass es sich noch gelohnt hätte, sie laut auszusprechen. Einer seiner Finger tippte in einem unregelmäßigen Takt auf den Schreibtisch, der seinen Ärger verriet.
Diaz, der bereits seit einer Weile in dem winzigen Vorraum gewartet hatte, betrat das Büro. Ihre Blicke trafen sich kurz und trennten sich sofort wieder. Die Lippen des Mannes verzogen sich abfällig. »Hier halten sich alle für Genies«, knurrte er. »Für die nächste Frida Kahlo. Aber keine von ihnen ist bereit, sich den Arsch aufzureißen, um es tatsächlich so weit zu bringen. Alle glauben, es würde sich von selbst ergeben, wenn sie nur lange genug in den Cafés rumhocken, Bier saufen und Kette rauchen.«
»Eine aufgebrachte Schülerin?«, erkundigte sich Diaz.
Der Mann stieß geringschätzig den Atem aus. »Sie wird schon darüber hinwegkommen. Dann wird sie entweder klein beigeben und ihre Arbeit abliefern oder aus dem Kurs aussteigen. Meistens sind es die Attraktiven, die sich am lautesten beklagen, aber am wenigsten zu tun haben. Sobald sie einmal gemerkt haben, dass ihnen alle anwesenden Männer und die Hälfte der Frauen an die Wäsche wollen, glauben sie, dass ihnen alles auf dem silbernen Tablett präsentiert werden müsste.« Er rieb sich nervös eins seiner Ohrläppchen, in dem ein winziger goldener Ring steckte.
Plötzlich schien ihm bewusst zu werden, dass er seinem Ärger vor einem ihm völlig fremden Besucher Luft machte, und stand auf. Wie um Halt zu suchen, legte er die Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. »Eduardo Flores, Director «, stellte er sich vor. »Womit kann ich Ihnen helfen, señor ?«
Diaz reichte ihm seinen Dienstausweis. Im selben Moment schob sich Ortiz in die letzte noch freie Lücke des winzigen Raums und setzte sich.
»Inspector Hector Diaz«, sagte Diaz. »Und das hier ist Sergeant Ortiz.«
Flores beäugte Diaz’ Ausweis, als könnte er eine verborgenekabbalistische Botschaft enthalten – oder einen Coupon für ein Spezialdinner zum halben Preis. An der Wand hinter ihm hing zwischen gerahmten Diplomen und anderen Urkunden von el Director eine Schwarzweißfotografie einer Gruppe Studenten, die einen mürrisch dreinblickenden García Bustos umringte, den Protegé von Diego Rivera. Unter den Studenten entdeckte Diaz das Gesicht des noch sehr jungen Flores.
» Ciertamente , Inspector Diaz. Es ist mir ein außerordentliches Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ihr Name ist ein Synonym für die Verbrechensbekämpfung in San Miguel. Bitte, nehmen Sie Platz.« Er deutete auf die zwei Stühle vor seinem Schreibtisch, von denen einer bereits von Ortiz belegt war. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein? Würden Sie gern etwas trinken?«
»Wir untersuchen den Mord an Amanda Smallwood. Sie hat hier im
Weitere Kostenlose Bücher