Die Tote von San Miguel
überlegte Diaz, ob er McVey zum Abschied einen Tritt in die Eier verpassen sollte, doch dann überquerte er einfach den öden Hof und stieg die rissige Betontreppe zu den Zimmern im ersten Stock empor. Ortiz folgte ihm. Sie gingen den Gemeinschaftsbalkon entlang und blieben vor der offenen Tür zu Nummer 14 stehen. In dem nur dürftig erhellten Zimmer gingen Licht und Schatten ineinander über. Als sich Diaz’ Augen auf das Halbdunkel eingestellt hatten, entdeckte er die Umrisse einer Frau, die auf einer alten, auf dem Boden liegenden Matratze hockte. Sie schaukelte im Rhythmus einer unhörbaren Melodie hin und her. Neben ihr leuchtete eine Kerzenflamme wie der erste Abendstern.
»Sylvia?«, rief Diaz.
Die Frau blickte auf. Ihre Augen schimmerten feucht im Kerzenschein. Noch so ein verlorenes Hippiemädchen in einem geblümten Kleid , dachte Diaz. Amandas Doppelgängerin . Nur hatte sie ihre Augen noch, atmete ein und aus, und ihre Seele wohnte noch immer in ihrem Körper.
»Ich bin Inspector Diaz von der Policía Judicial . Sie haben uns vorhin angerufen.«
Ein Weinen, ein urtümliches Wehklagen entschlüpfte der Kehle des Mädchens. Ihr Oberkörper wippte noch stärker hin und her. Tränenströme liefen ihr die Wangen hinab.
»Wir versuchen, die Person zu finden, die Amanda das angetan hat«, sagte Diaz behutsam. »Ich habe gehofft, dass Sie uns dabei behilflich sein könnten.«
»Sie ist tot, sie ist tot, sie ist tot …!«
Ihre tonlos hervorgestoßenen Worte klangen wie ein Mantra aus der Hölle. Diaz ließ sich vor Sylvia in die Hocke nieder und nahm sie in den Arm. Ihr Körper bebte, als hätte sie einen Anfall von Schüttellähmung. Ihre Arme waren weich wie Pudding, ihre Tränen fühlten sich kühl auf Diaz’ Wangen an. Nach einer Weile ließ ihr Zittern nach. Diaz half ihr aufzustehen und führte sie auf den Balkon hinaus. Im Sonnenlicht konnte er sehen, dass eine ihrer Haarsträhnen zinnoberrot gefärbt war.
Sie setzten sich auf eine Bank in die wärmende Sonne. Diaz gab Ortiz ein Zeichen, nach unten zu gehen. »Es tut mir leid für Ihre Freundin«, sagte er.
»Es geht mir schon wieder besser«, erwiderte die junge Frau.
»Erzählen Sie mir von Amanda«, bat Diaz. Sein Blick wanderte hinauf in den makellos blauen Himmel. Ganz weit oben kreiste ein Adler im Aufwind. Vielleicht war es aber auch Mictlantecihuatl , die Göttin der Unterwelt, die Amanda Smallwoods Seele ins Paradies trug.
Sylvias Augen waren auf den Boden gerichtet, ruhten auf den zerfransten Blättern der Palme, der es irgendwie gelungen war, in der Ödnis des Hofs zu überleben. Über einen der Palmwedel huschte eine Eidechse. Es sah so aus, als liefeeine winzige grüne Welle über den braunen Mittelstrang. Als Sylvia schließlich zu sprechen begann, klang ihre Stimme so leblos wie das Herz ihrer toten Freundin.
»Wir sind uns zum ersten Mal vor zwei Monaten auf der Hauptplaza von San Miguel begegnet. Ich glaube, wir hatten beide ein wenig Heimweh. Wir haben uns darüber unterhalten, woher aus den Staaten wir kommen. Amanda hatte bereits seit einem Jahr hier gelebt. Ich war gerade erst mit dem Bus aus Cuernavaca gekommen, nachdem ich eine Weile kreuz und quer durch Mexiko gereist war, Sie wissen schon, die üblichen Sehenswürdigkeiten abgeklappert hatte. Wir haben zu Mittag gegessen, und sie hat mich gefragt, ob ich schon eine Unterkunft hätte. Als ich nein sagte, hat sie gefragt, ob ich bei ihr wohnen wollte. Da ich nicht viel Geld hatte, habe ich das für eine gute Idee gehalten.«
»Sie haben also die letzten beiden Monate zusammengewohnt?«
»Amanda war wie meine ältere Schwester. Und wie eine Freundin, die ich vor langer Zeit verloren hatte. Sie kannte sich gut in San Miguel aus, was es mir leichtgemacht hat, mich hier zurechtzufinden. Wir waren beide Vegetarierinnen, und sie lernte gerade, das Tarot zu legen, was ich auf dem College in Albuquerque eine Weile studiert hatte. Sie hat mir einen Teilzeitjob in einem Buchladen verschafft.«
»Dann kennen Sie ihre hiesigen Freunde?«
»Amanda kannte eine ganze Menge Leute in San Miguel. Hauptsächlich Künstler und Musiker.«
»Gab es außer Ihnen noch jemanden, mit dem sie besonders eng befreundet war?«
»Sie ist mit allen Leuten gut ausgekommen, aber sie hatte keinen Freund, wenn es das ist, worauf Sie hinauswollen. Für sie waren die Kerle reine Zeitverschwendung.«
»Erzählen Sie mir von gestern.«
Diaz hatte den Satz kaum beendet, als er sah, wie die Trauer
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