Die Tote von San Miguel
übereinanderliegende Reihen kleiner Fenster, die den größten Teil einer der Wände einnahmen. Der Himmel hinter den Fenstern war makellos blau.
Etwa fünfzehn Männer und Frauen standen mit aufgeschlagenen Zeichenblöcken an Tischen oder saßen auf Metallhockern. Holzkohlestangen huschten wie vielbeinigeInsekten über grobes Papier. Auf einem erhöhten Podest in einer Ecke des Raumes saß eine nackte Frau auf einem Holzstuhl. Sie hatte den Oberkörper wie ein Schlangenmensch um eine Armlehne geschlungen, eine Hand auf den Boden gelegt, den anderen Arm wie ein Schwimmer mitten in der Bewegung hoch in die Luft gereckt. Ein kompliziertes Muster greller Tattoos wand sich ihre Arme hinunter und über die Ansätze ihrer Brüste. Beide Brustwarzen, die von ihrer Größe und Farbe her an seltene, verwitterte römische Münzen erinnerten, waren mit Goldringen gepierct.
Diaz verzog das Gesicht, als er sich die Schmerzen vorstellte, die mit dem Anbringen von derartigem Körperschmuck einhergingen. »Wie ich sehe, haben Sie ziemlich schnell einen Ersatz für die Verstorbene gefunden.«
»Wir haben jede Woche sechsmal anatomische Zeichenkurse sowie ein Malerseminar für die Darstellung des menschlichen Körpers«, erklärte Flores. »Amanda war nur eins unserer Models.«
Einige der Schüler blickten von ihren Zeichenblöcken auf.
Eine hohlwangige Frau näherte sich ihnen mit energischen Schritten. Das lange, mit grauen Strähnen durchsetzte Haar fiel ihr locker über die Schultern. Sie hatte einen Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Ihre glänzenden kleinen Augen wirkten verstört, als hätte sie gerade einen herabstürzenden Raubvogel entdeckt.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Director ?«, säuselte sie leise, wobei sie ein Pferdegebiss entblößte.
Flores versuchte vergeblich, seine Angst vor diesem pittoresken Geschöpf hinter einem wackligen Lächeln zu verbergen. »Ich führe diese Herrschaften über unseren Campus. Wir werden nur einen kurzen Blick auf Ihren Kurs werfenund gleich wieder verschwinden, Profesor Stein.« Bei dem letzten Satz bedachte er Diaz mit einem hoffnungsvollen Blick.
Diaz zwinkerte der Frau mit einem Auge zu. Vielleicht war es aber auch nur ein unwillkürliches Muskelzucken, hervorgerufen durch seine Müdigkeit. Profesor Stein starrte ihn feindselig an.
»Kannten Sie Amanda Smallwood, Profesor Stein?«, fragte er.
»Darum geht es also.« Ihr Blick huschte zu Flores hinüber und wieder zurück zu Diaz. »Sie sind von der policía ?«
Statt zu antworten, drehte sich Diaz auf dem Absatz um und verließ den Raum. Er konnte nicht vernünftig mit aggressiven Frauen umgehen, wenn sich sein Gedärm in Aufruhr befand. Flores und Ortiz folgten ihm im Gänsemarsch.
Im Hauptkorridor sah Diaz nach rechts und links, während er sich fragte, wo wohl die nächste Toilette war.
»Die Brustwarzenringe sind doch bestimmt nicht echt, oder?«, erkundigte sich Ortiz.
»Ich glaube, doch«, erwiderte Diaz. »Ich stelle mir vor, dass Frauen von ihrem Schlag ziemlich einfallsreich im Bett sind. Aber ich warne dich. Möglicherweise sammelt sie Schwänze als Trophäen. So wie andere Schrumpfköpfe sammeln.«
Ortiz zuckte zusammen. Einige Schüler, die gerade vorbeikamen, lachten. Die Krämpfe in Diaz’ unteren Körperpartien ließen allmählich nach. Er wandte sich Flores zu, der nervös die Hände knetete. »Hat Amanda Smallwood auch in Profesor Steins Kurs Modell gestanden?«
»Natürlich.«
»Dann wird Sergeant Ortiz die Professorin und ihre Schüler befragen müssen.« Diaz sah einen Anflug von Enttäuschungin Ortiz’ Augen aufflackern. »Und das tätowierte Model ebenfalls«, fügte er hinzu.
»Natürlich. Aber könnte er damit vielleicht bis zum Ende des Unterrichts warten? Ich hasse es, wenn die Lehrpläne umgeworfen werden.«
Diaz zuckte die Achseln. »Ich kann Ihren Wunsch, Profesor Stein nicht zu provozieren, durchaus nachvollziehen. Ich bin mir sicher, dass sie einem fürchterlich auf den Sack gehen kann.«
Flores schlug die Hacken zusammen wie ein dankbarer Soldat. »Der Zeichenkurs endet in einer halben Stunde. Ich werde señora Pinto anweisen, dafür zu sorgen, dass Sergeant Ortiz mit allen Schülern einzeln sprechen kann. Unser Kartenzimmer dürfte sich dafür bestens eignen.«
»Vergessen Sie nicht das Model und Profesor Stein.«
»Gibt es sonst noch irgendetwas, das ich für Sie tun kann, Inspector?«
»Vorläufig nicht.«
»Gut. Dann müsste ich jetzt dringend einen Termin
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