Die Tote von San Miguel
wahrnehmen.«
»Wir wollen Sie nicht aufhalten, Director .«
Diaz und Ortiz sahen Flores hinterher, der den Korridor entlangeilte.
»Der Mann hat irgendwas Unaufrichtiges an sich«, sagte Ortiz schließlich.
»Er ist ein Bürokrat in leitender Funktion«, erwiderte Diaz. »Er verheimlicht alle möglichen Dinge, um die Einrichtung vor Angriffen und Anfeindungen zu schützen, die ihr von überall her drohen – von Schülern, Lehrern, Angestellten und Außenstehenden. Aber bei all diesen Verschwörungen, die er wittert, handelt es sich lediglich um Phantasiegespinste. Stalin war ein extremes Beispiel für diese Artvon Paranoia. Er hat wahllos Menschen umbringen lassen und sich dann selbst eingeredet, alles nur zum Wohl der Allgemeinheit getan zu haben.«
Diaz zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Ortiz lehnte geistesabwesend an der Wand, die Hände in den Taschen seines Blazers vergraben.
»Hey, Roberto, zügle bitte deine Begeisterung über dein Nachmittags- und Abendprogramm. Vielleicht kommt ja irgendwas Nützliches bei den Verhören heraus. Auch wenn ich da so meine Zweifel habe. Bis später dann auf dem Revier.«
Diaz rückte seine Krawatte zurecht, bis sie exakt senkrecht herabhing, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. »Und versuch lieber nicht, dich mit dem Model zu verabreden. Das wäre deiner Gesundheit garantiert nicht förderlich.«
Als Diaz an Flores’ Büro in der Nähe des Eingangs vorbeikam, sprang ihm señora Pinto geradezu in den Weg, eine Hand hoch über den Kopf erhoben. Einen Moment lang dachte er, sie wollte sich auf ihn stürzen, eine Variation der berühmten Duschszene aus Psycho . Doch dann erkannte er, dass sie kein Messer, sondern ein Stück Papier in der Hand hielt.
»Inspector Diaz, es hat jemand für Sie angerufen.« Sie reichte ihm den Zettel.
»Danke, señora Pinto.« Diaz erkannte Armandos Mobiltelefonnummer.
»Inspector Diaz …?«
»Sí?«
»Wegen señorita Smallwood … Es tut mir schrecklich leid für sie und ihre Familie …« Señora Pinto nagte aufreizendan ihrer Unterlippe, bevor es aus ihr herausbrach: »Ich habe gehört, wie Sie Director Flores nach ihren Liebhabern gefragt haben. Es gab da einen Künstler, von dem sie mir im Vertrauen erzählt hat. Er ist oft zu uns ins Instituto gekommen und hat sie abgeholt. Ein Mann aus L. A., nicht aus irgendeinem mexikanischen Provinzkaff. Amanda war ganz verrückt nach ihm. Aber es gab da wohl einige Schwierigkeiten. Er war mit einer anderen Frau zusammen. Und Amanda musste ja auch an Sylvia denken. Sie wollte ihr nicht weh tun.«
»Und wie lautet der Name des Ladykillers?«
»Gregori Gregorowitsch. Er hat heute Abend eine Ausstellung in der Galería Rana .«
»Kein sonderlich norteamericano klingender Name.«
Ein Anflug von Verwirrung ließ die Augen der Sekretärin schmaler werden.
»Schon gut. Danke für die Information.« Die Schmerzen gruben sich erneut in Diaz’ Eingeweide wie die rasiermesserscharfen Zähne eines hungrigen Piranha. Er eilte auf die Straße hinaus.
Es war ein zehnminütiger Fußweg zurück zum Judiciales -Revier. Die alterslose Taco-Verkäuferin stand an ihrem üblichen Platz unter dem Bogen der alten Brücke. Ihr Vater, dessen Gesicht so zerfurcht war wie die Oberfläche eines vom Zahn der Zeit angenagten Ziegels, hockte reglos hinter ihrem Karren, einen altmodischen indianischen Strohhut auf dem Kopf. Als Diaz an ihm vorbeiging, verwandelte sich der Alte für einen kurzen Moment in einen aztekischen Schamanen, der in einen Jaguarpelz gehüllt war. Vor seiner Brust baumelte das goldene Abbild des Coxcox -Vogels. Ich muss Fieber haben , dachte Diaz.
Über der verzierten Mosaikkuppel des Templo de la Concepción trieben ein paar Wolkenfetzen, die von den Strahlen der untergehenden Sonne in Gold und Rosa getaucht wurden. Über die schmalen Seitenstraßen krochen bereits lange Schatten wie spitze Messer.
Es war annähernd fünf Uhr, als Diaz das Revier betrat. Er stand noch in der Eingangshalle und überlegte sich, was er tun sollte, als Corporal Goya mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf ihn zutrat. Sie reichte ihm einen Zettel mit der Telefonnummer von Amanda Smallwoods Vater in Dallas, Texas.
Diaz nahm den Zettel, murmelte ein oder zwei kaum verständliche Worte der Ermutigung und eilte fluchtartig den Flur entlang Richtung Unisex-Toilette. Danach saß er lange vornübergebeugt in der feuchten Kabine, das Gesicht ein Spiegel allgemeiner Unzufriedenheit.
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