Die Tote von San Miguel
Flores’ Stirn. Er förderte ein nicht mehr allzu sauberes Taschentuch zutage und wischte sich damit das Gesicht ab. »Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten ist äußerst fragwürdiger Natur«, gab er zu bedenken.
»Natürlich. Fahren Sie fort.«
»Wie Sie vermutlich bereits wissen, hat señorita Smallwood zusammen mit einem anderen amerikanischen Mädchen irgendwo im Stadtzentrum gewohnt. Ihr Name ist Sylvia Gates.«
Diaz nickte.
»Auch eine sehr hübsche junge Frau mit einem exquisiten Alabasterteint. Ich habe sie einmal gesehen, als sie Amanda zu einer Veranstaltung hier im Instituto begleitet hat.« Flores zuckte die Achseln. »Wie auch immer, es hieß, Sylvia und Amanda wären miteinander intim.«
»Hatten Sie ein Faible für die beiden?«, warf Ortiz ein.
Flores versteifte sich und richtete sich kerzengerade auf, die Wangen gerötet. »Das soll wohl ein Witz sein!«
»Haben Sie vielleicht von etwas eher Ungewöhnlichem geträumt?«, bohrte Ortiz nach. »Einer ménage à trois ?«
Flores ballte die Fäuste. »Ich verlange von Ihnen, dass Sie diese Unterstellung sofort zurücknehmen!«
»Beachten Sie Ortiz nicht weiter«, sagte Diaz. »Er spielt gern die Rolle des bösen Bullen. Wir wussten bereits von Smallwoods Schwäche für Sylvia Gates. Können Sie uns irgendetwas Interessanteres berichten, Director ?«
Seiner Körpersprache nach zu urteilen, stand Flores kurz davor, seine Kooperationsbereitschaft zu verweigern. »Nur das Übliche. Sie hat mit diesem und jenem Künstler in SanMiguel geschlafen. Aber keiner davon hatte mit dem Instituto zu tun.«
»Namen, Dr. Flores«, knurrte Ortiz. »Von allen, mit denen sie es angeblich getrieben oder auch nur in Erwägung gezogen hat, es zu treiben. Männer oder Frauen. Flora oder Fauna.«
Das Schweigen zog sich unbehaglich in die Länge wie ein Wassertropfen, der an einem Wasserhahn hängt. Aus dem Vorzimmer oder Empfangsraum, der sogar noch winziger als Flores’ Büro war, drang das Klappern von Fingernagelverlängerungen aus Kunststoff herüber, die über eine ebenfalls aus Kunststoff bestehende Tastatur flogen. Bei Diaz’ und Ortiz’ Ankunft war das Büro der Sekretärin mit dem Computer und der Telefonanlage nicht besetzt gewesen. Die Tür zu Flores’ Zimmer hatte die ganze Zeit über offen gestanden.
Endlich löste sich der zähe Tropfen. »Ich glaube wirklich nicht, dass ich Ihnen mit Namen weiterhelfen kann, Inspector«, sagte Flores steif.
»Weil Sie ein rücksichtsvoller Mann sind, Director , davon bin ich überzeugt. Ich hoffe nur, dass Ihr Name nicht dabei ist, wenn irgendwann doch Namen genannt werden.« Diaz erhob sich. In seinen Eingeweiden rumorte es vor Anspannung. »Jetzt hätten wir gern eine Führung. Um uns ein Bild davon zu machen, wo Amanda Smallwood gearbeitet hat.« Einen Moment lang hatte ihm die Formulierung »Wo sie ihrem Gewerbe nachgegangen ist« auf den Lippen gelegen, doch er verkniff sich die Worte.
Flores streifte eine Kordsamtjacke mit Wildlederflicken an den Ellbogen über und ging voraus. Eine Frau in den Vierzigern mit stark aufgetragenem purpurfarbenem Lidschatten und rabenschwarzem Haar, das sie sich mit einemBand aus rotem Samt im Nacken zusammengebunden hatte, saß hinter dem Sekretärinnenschreibtisch. Sie blickte flüchtig von ihrer Tastatur auf, als die drei Männer das Vorzimmer durchquerten.
»Ich führe Inspector Diaz und seinen Kollegen durch das Instituto , señora Pinto«, sagte Flores.
Er geleitete Diaz und Ortiz einen dämmrigen Flur mit ockerfarben gestrichenen Wänden und einem rot gefliesten Fußboden hinunter. Diaz fühlte jedes Mal, wenn es in seinem Gedärm gurgelte, eine seltsame Verbundenheit mit der Wandfarbe.
»Das Instituto ist ursprünglich um die Jahrhundertwende herum als palacio erbaut worden«, erzählte Flores mit ausdrucksloser Stimme. »Nicht besonders alt, verglichen mit den meisten Gebäuden im Herzen von San Miguel. Aber der Bauherr hatte hochfliegende Pläne. Als er unerwartet starb, brachen seine Erben das Projekt ab, obwohl es bereits kurz vor seiner Vollendung stand. Seither wird es als Schule genutzt. Zuerst war es eine private Militärakademie, dann, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ein Zufluchtsort für Künstler.«
Er bog in einen engen Seitenkorridor ab. »Hier befindet sich unser größtes Maler- und Zeichnerstudio. Dort findet gerade ein Kurs statt.«
Sie traten aus dem Halbdunkel heraus in einen lichtdurchfluteten Raum. Das Licht fiel durch mehrere
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