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Die Tote von San Miguel

Die Tote von San Miguel

Titel: Die Tote von San Miguel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Woods
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Eigentlich hätte er Smallwood auf kürzestem Weg ins Hotel zurückschaffen und dort gründlich ruhigstellen müssen. Stattdessen lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und trank von seinem Pilsner.
    Am Nachbartisch beobachtete er eine attraktive Frau in den Vierzigern. Eine Blondine mit einem Strohhut auf dem Kopf, die ein winziges gelbes Kleid trug, das die vollen Rundungen ihres Körpers noch betonte. Obwohl sie in fließendem Spanisch mit dem Kellner sprach, hatte sie einen ausländischen Akzent.
    Diaz seufzte und richtete seine Aufmerksamkeit auf einen jüngeren Mann in einer besudelten Leinenjacke, der direkt neben ihr saß. Seine Lippen glitten schamlos die Wölbung ihres Halses entlang, eine seiner Hände tauchte zwischen ihre Oberschenkel. Als die Frau bemerkte, dass Diaz sie beobachtete, lachte sie unbekümmert und stieß den Mann von sich, worauf er schmollte wie ein heruntergekommener Aristokrat, der durch revoltierende Bauern von seiner ohnehin schon dreifach verpfändeten estancia vertrieben wurde.
    Während Diaz noch überlegte, ob er ihr zulächeln sollte, bemerkte er, dass sie zwar in seine Richtung sah, aber durch ihn hindurchstarrte, als sei er unsichtbar. Er stand auf. »Ich muss mal pissen«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«
    Die Toiletten befanden sich im hinteren Bereich des Cafés. Diaz stieß die Tür zur Herrentoilette auf und bezog vor einem alten sargförmigen Urinal Stellung, das zwar rissigwar und Rostflecken aufwies, aber noch immer seinen Zweck erfüllte. Er fügte seinen Strahl dem unermesslichen Strom menschlicher Ausscheidungen hinzu, in dem die Welt ersoff.
    Als er aus der Toilette zurückkehrte, waren Smallwood und Armando verschwunden. Er warf einen Blick zur Bar hinüber, konnte aber auch dort keine Spur von den beiden entdecken. Voller Anspannung eilte er zur Brüstung der Terrasse und ließ den Blick langsam über die Menschenmengen auf der Straße wandern. Weder von Smallwoods massiger Gestalt noch von Armando, dessen Profil ein wenig an Alfred Hitchcock erinnerte, war etwas zu sehen. Auch die Kellner hatten nichts beobachtet. Eben waren die beiden noch hier gewesen und dann von einem Moment auf den nächsten verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
    Seine Unschlüssigkeit kostete Diaz wertvolle Sekunden. Schließlich machte er sich mit zügigen Schritten über eine Seitenstraße auf den Weg zum Hotel, schob sich rücksichtslos durch eine Gruppe streitsüchtiger Indianer, die der Alkohol in eine aggressive Stimmung versetzt hatte und die ihm wüste Flüche hinterherriefen. In Erwartung von Schwierigkeiten drehte er sich um und tastete nach der Glock unter seiner Jacke.
    In diesem Moment materialisierten sich drei Tänzer mit überzeichneten Tiermasken, die nackten Arme, Beine und Körper mit primitiven Petroglyphen bemalt, wie aus dem Nichts vor Diaz und umringten ihn. Sie sangen uralte Gesänge, die sich mit Gelächter, dem Klingeln geschüttelter Glocken und den rhythmischen Schlägen einer einzelnen Handtrommel vermischten. Diaz erkannte sie als anthropomorphe Abbilder aztekischer Gottheiten. Einer der Tänzer,eine clownesk aussehende Kröte, packte Diaz an einem Handgelenk und riss es in die Höhe, während eine Jaguarhalbgöttin, deren nackte Brüste mit ockerfarbenen und schwarzen Punkten gesprenkelt waren, ihm ein aus bunten Schnüren geflochtenes Armband umlegte. Er konnte sich noch gut erinnern, wie sein Großvater jedes Mal das Gleiche mit ihm gemacht hatte, bevor sie zu einem ihrer Ausflüge in das Hinterland der Sierra aufgebrochen waren. Das Armband beschwor den Schutz durch die Teufel und Diener des Gottes der Unterwelt Mictlantecuhtle herbei, hatte ihm sein Großvater erklärt. Wobei jede Schnur für einen der kosmischen Kreise stand.
    Dann waren die drei Tänzer auch schon wieder die Straße in Richtung jardín hinuntergewirbelt und wurden von der dichten Menschenmenge verschluckt. Nur die geflochtenen Schnüre an seinem Handgelenk bewiesen ihm, dass sie tatsächlich dagewesen waren. Diaz runzelte verblüfft die Stirn.
    An der nächsten Straßenkreuzung bemühte sich ein uniformierter Polizist mehr oder minder vergeblich, den festgefahrenen Verkehr auf einer Straße, die gerade einmal Platz für eine Fahrspur bot, in beide Fahrtrichtungen zu lenken.
    Diaz zeigte ihm seine Dienstmarke. »Haben Sie einen riesigen gringo in einer gelb und schwarz karierten Jacke gesehen, der in diese Richtung gegangen ist?«, fragte er. »Oder einen Judiciales

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