Die Tote von San Miguel
Fleisch. Ein nackter kleiner Junge mit einem winzigen Penis, der so spitz wie ein Wespenstachel war, rannte plötzlich auf die Straße hinaus. Bremsen quietschten, eine Frau schrie. Verängstigt durch die ihm so unvermittelt zuteilgewordene Aufmerksamkeit,begann das Kind, das unverletzt geblieben war, zu plärren.
Als sich die beiden Polizisten und der trauernde Vater dem kolonialen Zentrum näherten, wurden sie vom Strudel des religiösen Festes aufgesogen, dessen Feierlichkeiten bereits am Morgen begonnen hatten. Halbnackte Bauern tanzten in gefiederten Kostümen. Kleine Mädchen in prächtigen Kommunionskleidern sprangen unter lautem Kreischen Seil. Familien schlenderten umher, aßen, lachten, diskutierten. Verrückte, in Lumpen gekleidete alte Frauen hockten in Hauseingängen und hielten bettelnd die Hände auf. Caballeros und Politiker ritten auf nervös tänzelnden Pferden. Indianische Mütter in handbestickten Kleidern schleppten Kinder und Säcke voll mit selbstgebasteltem Schmuck mit sich herum. Betrunkene und Touristen stießen zusammen und verfluchten einander. Bettler und Taschendiebe beobachteten wachsam das Treiben. Die gesamte Bevölkerung des Umlandes und der Stadt strömte über die Wege des Jardín Principal und die angrenzenden Straßen.
Die drei Männer bahnten sich fast unbemerkt im Gänsemarsch ihren Weg durch die wogende Menge. Diaz und Armando wie Raben in ihren dunklen Anzügen, Bass Smallwood wie ein deplatzierter Clown in seiner grellgelb und schwarz karierten Jacke, die ihm wie ein Stück zerknittertes Bonbonpapier über die breiten Schultern hing.
Schließlich betraten sie die von Säulen gesäumte düstere plazoleta , in der seit fünf Generationen das Bestattungsunternehmen des derzeitigen Besitzers, Dr. M. Valdemario, residierte. Der Doctor , spindeldürr, elegant in ein gestärktes weißes Hemd, eine lavendelfarbene Krawatte und einen schwarzen Anzug mit Samtkragen gekleidet, trat wie eine Erscheinung aus längst vergangenen Zeiten beim Läutender Kupferglocke über der Tür aus seinem Büro. Er ergriff Smallwoods Hand, nickte gewichtig und flüsterte ihm einige unverständliche tröstende Worte zu.
An einem Ende des kryptaartigen Raumes bot eine aus viktorianischen Sesseln und einem Sofa bestehende Sitzgruppe das passende Ambiente für ein vertrauliches Gespräch über alle mit einer Bestattung einhergehenden Notwendigkeiten. Ein Schreibtisch mit Fischbeineinlagen aus den fünfziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts zum Unterschreiben der unvermeidlichen Vertragsdokumente stand ein Stückchen abseits.
Der Preis für Dr. Valdemarios Dienste wurde stets in voller Höhe fällig, bar und im Voraus zu zahlen. Ausnahmen waren nicht möglich. Wer diese Bedingungen nicht erfüllen konnte, wurde ohne Zögern an die unseriösen Bestatter weiterverwiesen, deren Geschäfte in der Neustadt am Fuß des Hügels in stetigem Wechsel eröffneten und wieder verschwanden.
Der Großteil des Raumes wurde von zweireihig aufgestellten Sargmodellen eingenommen, angefangen mit Särgen aus schlichtem Kiefernholz über handgewachste mexikanische Eiche bis hin zu edelstem malaiischem Teakholz, das von innen heraus zu leuchten schien. Alle Särge waren mit schwarzem Samt ausgelegt, der jeden Lichtstrahl in sich aufsaugte. Die Griffe und Zierleisten reichten von solidem Messing über Chrom bis hin zu Rotguss.
»Etwas Schlichtes, aber … Bedeutungsvolles«, murmelte Smallwood, als Valdemario ihn durch den Ausstellungsraum führte und dabei die Vorzüge der einzelnen Modelle anpries wie ein Obsthändler seine Bananen, Mangos, Papayas und Feigen.
»Es soll nicht exotisch bunt aussehen«, erklärte er Diazüber die Schulter hinweg. »Nicht, wenn die Angehörigen meiner Ex in der Gegend rumschnüffeln. Die sind ständig auf der Suche nach weiteren guten Gründen, warum es völlig in Ordnung von ihr war, mit diesem beschissenen Yachtbesitzer durchzubrennen.«
Diaz folgte den beiden Männern, erstaunt über die Bandbreite der Truhen zum Verpacken der Toten. Armando war am anderen Ende des Raumes mit sorgenvoller Miene sitzen geblieben. Diaz fragte sich, warum er Carmen nicht einfach auf seinem Mobiltelefon anrief. Vielleicht bereitete es ihm ja ein masochistisches Vergnügen, sich in der passenden Umgebung mit der Vorstellung einer weiteren Fehlgeburt selbst zu quälen. Oder versuchte er vielleicht, in seinem Vorgesetzten Schuldgefühle hervorzurufen, weil der ihn zwang, an einem Samstagnachmittag zu
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