Die Tote von Schoenbrunn
Attentatsversuch gewesen?
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Die mysteriösen Schüsse nach dem Begräbnis der Kaiserin wurden am nächsten Tag in keiner der Sonntagszeitungen erwähnt. Die Beschreibung der feierlichen Beisetzung Ihrer Majestät in der Kapuzinergruft nahm hingegen in allen Blättern mehrere Seiten ein.
Nach ausgiebiger Lektüre der Zeitungen und mehreren Tassen Kaffee beschloss Gustav, seinen Freund Rudi zu Hause in seiner Wohnung in der Schlossgasse zu besuchen.
Ein warmer Spätsommertag. Gustav spazierte zu Fuß hinüber in den fünften Bezirk. Als er die Hofstallungen durch den Seiteneingang an der Mariahilfer Straße verließ, fiel ihm auf, dass die normalerweise sehr belebte Straße heute wie ausgestorben war. Es schien nach wie vor ein riesiger schwarzer Trauerflor über der Stadt zu hängen. Auch der Kaiser, der in der warmen Jahreszeit sonst jeden Morgen in einem eleganten schwarzen Coupé von Schönbrunn in die Hofburg fuhr, und zwar immer zur selben Stunde, sodass die Wiener ihre Uhren nach ihm richteten, ließ sich nicht blicken. Ach Gott, heute ist ja Sonntag, dachte Gustav. Bestimmt wohnte Kaiser Franz Joseph der Messe bei, die für die Verstorbene im Stephansdom gehalten wurde.
Am Wienfluss, zu dieser Zeit einem der lautesten Plätze von Wien, war es ebenfalls auffallend ruhig. An normalen Tagen tobte hier der Lärm der Baumaschinen begleitet von viel Staub und Dreck. Heute standen alle Maschinen still.
Neugierig näherte sich Gustav der riesigen Baustelle. Das tiefe Betonbett, das für den Wienfluss errichtet worden war, um die verheerenden Hochwasser in Zukunft zu verhindern, war zum Großteil schon fertiggestellt. Aber die Arbeiten an der Wientallinie waren noch in vollem Gange.
Eine hohe Mauer grenzte die Wiener Stadtbahn vom Flussbett ab. Otto Wagner, der geniale Gestalter der neuen Stadtbahn, hatte sich dafür eingesetzt, den Fluss im Zuge der Bauarbeiten von Schönbrunn bis zum Karlsplatz einzuwölben und über der Einwölbung eine Prachtstraße, die Wienzeile, zu errichten. Zwei fast bezugsfertige Häuser auf der linken Seite des Flusses ließen erahnen, wie repräsentativ und modern diese Häuserzeile in Zukunft aussehen würde, eben eine ideale Verbindung zwischen Oper und Schloss, zwischen Kultur und Macht. Die Einwölbung war aber nur für eine kleinere Teilstrecke von der Pilgrambrücke flussabwärts bewilligt worden. Für die städtischen Abwässer errichtete man beidseitig des kanalisierten Flusses Sammelkanäle, die sogenannten Cholerakanäle, die aber Überläufe ins Flussbett hatten.
Vor dem Haus Nummer 38 in der Linken Wienzeile blieb Gustav stehen und bewunderte die Dekorationen von Koloman Moser, der ebenso der Wiener Secession angehörte wie Othmar Schimkowitz, der die wundervollen floralen Ornamente an der Fassade und die am Dach thronende Ruferin geschaffen hatte.
Daneben auf Nummer 40 befand sich das Majolikahaus. Das mit glasierten Majolikafliesen verkleidete Gebäude war in Gustavs Augen eines der schönsten Häuser der Stadt. Er konnte sich nicht sattsehen an den mit Blumenmotiven geschmückten Fliesen. Wie sehr bewunderte er den großen Architekten Otto Wagner, der auf Hygiene so viel Wert legte. Denn die Keramikfliesen waren witterungsbeständig, pflegeleicht und abwaschbar. Gustav beneidete alle zukünftigen Bewohner dieses Gebäudes.
Je weiter er stadtauswärts spazierte, desto schäbiger wurde die Gegend. Als er auf der Pilgrambrücke den Wienfluss überquerte und nach Margareten kam, wurden die Gebäude niedriger und die Straßen schlechter. Nur der riesige Margaretenhof, den die Theaterarchitekten Fellner und Helmer in der Mitte des Jahrhunderts als eine Art Wohnhof mit Allee errichtet hatten, hielt dem Vergleich mit den Prachtbauten am Beginn der Wienzeile stand. Vom Schloss Margareten war nicht mehr viel übrig. Handwerksbetriebe und Fabriken säumten die schmalen, gewundenen Gassen rund um das ehemalige Schloss. Über dem Brunnen am Margaretenplatz, aus dem sich die Anrainer mit Trinkwasser versorgten, triumphierte die heilige Margareta von Antiochia über den bösen Drachen. Sie war zur Namensgeberin der unlängst erst eingegliederten Vorstadt geworden. Hin und wieder tauchten zwischen den zweigeschoßigen Häusern mit morschem Gebälk kleine Gärten mit Maulbeerbäumen auf. Ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten, als diese Gegend fruchtbares unverbautes Land war. Sogar Weingärten soll es hier gegeben haben, hatte zumindest der alte Kasper behauptet.
Rudi
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