Die Tote
Bewohner ausübte.
Der dunkle Gongschlag verkündete die sechste Stunde dieses Montagmorgens im Mai, und im selben Moment surrte ein Handy. Jemand verschluckte sich und begann zu husten. Charlotte Wiegand erhob sich langsam und fuhr im Halbdunkel mit ihrer Hand über ihr Nachttischchen. Ein Glas fiel klirrend um, glücklicherweise leer. Sie erwischte ihr Handy.
»Ja«, sagte sie heiser und ließ sich wieder aufs Bett fallen. »Hm«, brummte sie, und »okay, in einer halben Stunde.«
Sie erhob sich und rieb sich über die Augen. »Wieso immer am Montag?«, murmelte sie.
»Was ist los?«, fragte eine Männerstimme.
»Eine Tote an der Kröpcke-Uhr«, erwiderte Charlotte und griff sich an die Stirn. Meine Güte, konnten die Leute nicht mehr im Bett sterben? Und am Dienstag oder Mittwoch? Sie stand auf und ging über die knarzenden Dielen ins Bad.
Es gab Momente, da beneidete sie Rüdiger, ihren Kollegen und Lebensgefährten, um sein momentanes Handicap. Dies war so einer. Er plagte sich nämlich seit fünf Wochen mit einem Bänderriss herum, den er sich bei einer wenig rühmlichen Verfolgungsjagd zugezogen hatte. Er selbst wollte allerdings nicht darüber sprechen, war mit seiner Behinderung und sich selbst höchst unzufrieden und denkbar schlecht gelaunt. Stakte ruhelos auf seinen Krücken durch die Wohnung auf der Suche nach Beschäftigung – zugegeben, er war erstaunlich flink damit unterwegs –, aber im Haushalt ließ sich nicht so leicht eine Beschäftigung finden, wenn man Krücken mit sich herumschleppte.
Charlotte schlurfte ins Bad. Als sie sich die Zähne putzte, musterte sie im Spiegel eine übermüdete dunkelhaarige Frau mit blauen Augen. Sie strich die Haare an den Schläfen zurück und schätzte mit herabgezogenen Mundwinkeln die Länge des grauen Haarabschnitts am Ansatz ab. Das Ergebnis war nicht dazu angetan, ihre Laune zu heben. Sie brauchte unbedingt eine neue Tönung.
Wenig später stand sie in Jeans und T-Shirt – vielleicht sollte sie einen Blazer überziehen, es war ziemlich kühl – in ihrer geräumigen Küche und nippte an einem Kaffee. Rüdiger kam hereingehüpft und hielt sich am Türrahmen fest.
»Soll ich mitkommen?«, fragte er und fuhr sich durch die Haare.
Charlotte stand an der Arbeitsfläche und musterte ihren Freund lächelnd. Er war gerade aus dem Bett gestiegen und lehnte nun in Boxershorts, den geschienten Fuß angehoben, im Türrahmen. Die leicht angegrauten, vollen Haare reckten sich in alle Richtungen, und die Figur … mmh – immer noch lecker.
»Nee«, sagte Charlotte und stellte ihre Kaffeetasse weg, »das schaff ich schon alleine.«
An der Kröpcke-Uhr erwartete Charlotte ein Menschenauflauf. Ihre Kollegen von der Schutzpolizei versuchten mühsam, das Publikum – Charlotte sah tatsächlich einen älteren Herrn mit einem Fernglas hinter der Absperrung stehen – zurückzudrängen.
Da es in der Innenstadt von Hannover, so wie in jeder anderen Großstadt auch, naturgemäß nie freie Parkplätze gab – auch nicht zu dieser frühen Stunde –, hatte sie ihren funkelnagelneuen Golf kurzerhand auf dem Opernplatz geparkt. Sie zog ihren dunkelblauen Blazer enger um die Schultern und schubste die Gaffer, die ihr im Weg standen, unwirsch zur Seite. Es war ein trüber Montagmorgen. Der Frühling hatte sich bisher von der sparsamen Seite gezeigt, und die wenigen warmen Sonnentage hatte Charlotte größtenteils mit Blick auf die blühenden Ahornbäume vor ihrem Bürofenster an der Waterloostraße genießen müssen.
Sie erkannte Dr. Wedel, den Rechtsmediziner, der in seiner obligatorischen schwarzen Kluft neben der Uhr stand und über seinen ausladenden Bauch hinweg ein rosa Häuflein zu seinen Füßen betrachtete. Kramer von der Spusi fotografierte. Kollege Schliemann, der Bergheim vertrat, war noch nicht vor Ort.
»Morgen«, sagte Charlotte, ohne den Blick von dem Badetuch zu wenden, aus dem ein Kopf mit strähnigem schwarzem, offensichtlich gefärbtem Haar hervorlugte.
»Morgen«, erwiderte Wedel und klopfte mit seiner Rechten auf Charlottes Schulter. Die wich unwillkürlich zurück, und Wedel rückte schmunzelnd seine neue Hornbrille zurecht. Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, Polizisten zu schockieren und Charlotte im Besonderen. Sie konnte von Glück reden, dass er ihr mit seiner behandschuhten Hand, die eben noch die Leiche untersucht hatte, nicht die Wange getätschelt hatte.
Charlotte betrachtete das rosa Gebilde. Kleine nackte Füße schauten unter
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