Die Toten der Villa Triste
Polizist.« Achilleo Ventas Miene nahm einen argwöhnischen Ausdruck an. Seine Hand zuckte vor und schloss sich über der Klinke. Als Nächstes, dachte Pallioti, würde er wahrscheinlich einen Flintenlauf durch das Fenster hinter den roten Läden schieben. Er holte seinen Ausweis heraus.
Signor Venta ließ die Klinke los und grabschte nach dem Ausweis. Dann führte er die geäderten Hände an sein Gesicht und studierte den Aufdruck. Mehrmals verglich er das Foto mit Palliotis Gesicht, ehe er den Ausweis zurückgab.
»Wer ist sie?«, fragte er.
»Meine Assistentin«, erklärte Pallioti schnell. »Professor Sachs. Wir sind ziemlich weit gefahren, um mit Ihnen zu sprechen, Signor Venta«, ergänzte er. »Vielleicht könnten Sie es ja ermöglichen, uns ein paar Minuten Ihrer Zeit zu gewähren?«
Einen Moment lang schien Achilleo Venta ernsthaft über diese Frage nachzusinnen, so, als wären seine Tage von dringenderen Aufgaben erfüllt, als in der Kälte auf der Veranda zu sitzen, über die leeren Schweinekoben zu schauen und darauf zu warten, dass seine Tochter nach Hause kam. Schließlich nickte er.
Innen sah das Bauernhaus besser aus, als man von außen vermutet hätte. Der lang gestreckte Wohnraum war mit Sofas und einem nicht lackierten Kieferntisch eingerichtet und wurde von einer Fensterfront erhellt, durch die man auf ein struppiges Mosaik von Feldern blickte. Auf dem nächstgelegenen Feld wühlten ein paar riesige Sauen im Schlamm. Auf dem dahinter wölbten sich mehrere halbrunde Schweinehütten.
»Das sind meine Mädchen.« Achilleo Venta rollte ans Fenster. Sein Gesicht und seine Stimme wurden sofort weicher, sobald er auf die riesigen, schwarz-weißen Schweine sah. »Die besten Mütter auf der ganzen Welt.«
Er sah über die Schulter zu Pallioti zurück. »Verstehen Sie etwas von Schweinen?«, fragte er. Dann lachte er auf. »Nehmen Sie’s nicht persönlich«, schnaubte er. »Natürlich verstehen Sie nichts von Schweinen. Sie verstehen nichts von irgendwelchen Tieren. Sie haben doch keine Ahnung von den Dingen, die sich außerhalb Ihrer schicken Städte abspielen. Woher kommen Sie, aus Rom?«
»Aus Florenz.«
Pallioti meinte, etwas im Gesicht des Alten aufflackern zu sehen. Gleich darauf sagte Achilleo Venta: »Da wäre ich um ein Haar gestorben. Aber ich bin es nicht.«
»Was ist passiert?«
Eleanor Sachs hatte diese Frage gestellt. Sie trat vor den Rollstuhl, und Pallioti durchzuckte der Gedanke, dass der Alte kaum größer war als sie. In ihren Jeans und den Turnschuhen, mit ihrer Jacke und ohne Make-up schienen sich auch die wenigen Merkmale des Erwachsenseins, die ihr ansonsten anhafteten, in Luft aufgelöst zu haben.
Achilleo Venta sah zu ihr auf.
»Lungenentzündung«, erklärte er nach ein paar Sekunden.
Er zog einen kleinen Halbkreis mit seinem Rollstuhl. Einer der Fäustlinge verfing sich in einer Speiche. Wütend zerrte er daran.
»Wenigstens haben sie mir das damals erklärt. Wenn Sie mich fragen …«, seine Finger nestelten an der Sicherheitsnadel herum, »… war es schlicht und einfach der Tod. In diesem gottverfluchten Winter lagen alle im Sterben. Sie behaupteten, es wäre eine Lungenentzündung. Aber ich weiß Bescheid.« Er sah Pallioti an. »Ich habe es gesehen. Die Menschen sind damals einfach gestorben. Sie sind gestorben, weil sie nicht mehr wollten. Weil sie es nicht mehr aushielten. Wie die Ratten zu leben.«
Pallioti beugte sich hinunter und löste die Nadel. Er befreite den Handschuh aus der Speiche und reichte ihn dem Alten.
»Lungenentzündung, Verzweiflung.« Achilleo Venta blickte auf den Handschuh und ließ ihn dann auf den Boden fallen. »Was macht das schon für einen Unterschied?«, fragte er. »Letzten Endes? Sechs Monate war ich im Krankenhaus. Ich nehme an, sie haben mich am Leben erhalten. Damals war ich auch da.« Er deutete auf die Wand. »Da drüben, das bin ich. Am 11. August 1944. Dafür habe ich einen Orden bekommen. Damals war es immer noch nicht vorbei.« Er nickte und mahlte dabei mit den Zähnen, als wollte er die Erinnerung zerkauen. »Die Kämpfe gingen noch tagelang weiter, aber daran will sich niemand mehr erinnern.«
Achilleo Venta starrte auf den Handschuh, der auf dem Boden lag. Unter der abgetragenen, viel zu groß gewordenen Jacke hoben und senkten sich seine dürren Schultern in einem müden Achselzucken.
»Irgendeiner musste damals reingehen«, erzählte er. »Also haben sie uns geschickt, in ein Gebäude nach dem anderen. Haus
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