Die Toten der Villa Triste
»ich schätze, das könnte man von der Hälfte der Anwesenden behaupten. Immerhin sah er ganz gut aus.«
Sie hatte recht. Pallioti erkannte, dass Roberto Roblino zu Lebzeiten ein gut aussehender Mann und, genau wie sein weißmähniger Kamerad, offenbar bei guter Gesundheit gewesen war. Im Gegensatz zu Trantemento und dem kleinen Männchen am Ende der Reihe. Gemeinsam sahen die vier weniger aus wie die vier vergreisten Musketiere, sondern eher wie eine Art Allegorie – Lebenslust und Lebenskraft umrahmt von Verdruss und Verfall.
»Also«, erläuterte sie, »wenn dieser Nosferatu hier unser Giovanni Trantemento alias Il Corvo alias Giovanni Rossi ist, dann würde ich darauf tippen, dass dieser Kerl Massimo ist.« Sie war aufgesprungen und tippte jetzt auf den weißhaarigen Lautsprecher im Frack. »Natürlich könnte er auch jemand ganz anderer sein.«
Aber Pallioti war klar, dass er niemand anders sein konnte. Schon jetzt spürte er, wie sich etwas in seiner Magengrube regte und rührte. »Eine Statur wie ein Stier«, hatte Caterina über Massimo geschrieben. Und sie hatte seinen Freund mit dem »verkrümmten Rücken« erwähnt. Natürlich konnte das Zufall sein. Aber er glaubte nicht an Zufälle. Er beugte sich vor und versuchte, das Gesicht des Mannes zu erkennen.
»Übrigens habe ich diesen Ausschnitt auch Roberto Roblino vorgespielt«, erzählte Eleanor Sachs eben. »Darum fand ich es so merkwürdig, als Sie mir im Restaurant von ihm erzählten. Weil er mich dabei nicht auf Trantemento hinwies, sondern mir nur seine Adresse gab und mir auch nicht verraten wollte, wer dieser Mann hier war. Er wäre eindeutig ein Kandidat«, meinte sie und tippte wieder auf den Frack des Weißhaarigen. »Die richtige Größe und alles. Ohne ihm persönlich begegnet zu sein, kann ich allerdings nicht sagen, ob er meinem Vater ähnlich sieht. Aber«, ergänzte sie und verzog dabei das Gesicht, »Roblino behauptete, er könne sich nicht erinnern, wie er hieß. Ist das zu glauben?«
Pallioti sah sie an. Er dachte an Giovanni Trantemento, der nie über den Krieg geredet hatte, und an Roberto Roblino, der ständig davon geredet hatte – doch ohne dabei wirklich etwas zu erzählen. Er dachte an die vielen ungeöffneten Plastikhüllen und an Signor Cavicalli. Die Menschen sammeln aus zwei Gründen. Weil sie möchten, dass ihre Mitmenschen etwas Bestimmtes erfahren. Oder weil sie es nicht erfahren sollen. Er würde seinen guten Ruf darauf verwetten, dass Trantemento aus dem zweiten Grund gesammelt hatte – und dass Massimo genau Bescheid wusste. Also ja, dachte er. Ja, er glaubte nur zu gern, dass Roberto Roblino plötzlich den Namen seines alten Kameraden vergessen hatte. Er wusste nur nicht, weshalb.
»Hat Roblino etwas gesagt?«, fragte er. »Irgendetwas über …«, er deutete auf den Bildschirm, den weißen Schopf, das strahlende Gesicht mit den immer noch roten, wettergegerbten Wangen, »… diesen Mann? Was auch immer?«
Eleanor sah zur Decke. »Roblino meinte, er würde ihn nicht näher kennen und hätte ihn nie näher gekannt. Allerdings glaube ich ihm das nicht. Sie etwa? Trotzdem hatte ich das starke Gefühl, dass er ihn nicht leiden kann. Als ich nachhaken wollte, begann Roblino zu mauern. Er sagte keinen Ton mehr. Dann fragte ich ihn nach Il Spettro, und er gab mir Trantementos Namen und Adresse. Darum dachte ich, ich könnte einfach Trantemento fragen, und ließ das Thema fallen. Allerdings hatte ich mir da vergebliche Hoffnungen gemacht.« Sie seufzte. »Also, bei diesem Mann …«, sie tippte auf den Gnom mit dem Barett, »… weiß ich wohl, wer er ist – auch wenn er kein Großvater-Kandidat ist, glaube ich. Oder hoffe ich wenigstens.«
»Ach ja?«
Sie nickte. »Roblino meinte, er hieß damals Pecorella. Piccolo Pecorella, um genau zu sein.«
Kleines Lämmchen. Der Junge, der mit Massimo im Geräteschuppen des Klosters auf Caterina gewartet hatte. Pallioti betrachtete das eingefrorene Bild auf dem Schirm und fragte sich, ob die Namen wirklich so willkürlich gewählt worden waren, wie Signora Grandolo glaubte. Il Corvo hatte jedenfalls gut gepasst. Er wusste nicht, wer für die Namensvergabe in dieser speziellen Einheit zuständig gewesen war, aber offenbar hatte er Humor gehabt. Oder er hatte in die Zukunft sehen können. Piccolo Pecorella, der Junge, den Massimo als sein »Maskottchen« bezeichnet hatte, war nie groß geworden. Caterina hatte geglaubt, dass er vielleicht unter einem Buckel oder einer
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