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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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natürlich. Verstreut, größtenteils in schlichten Silberrahmen, oft schwarz-weiß, zeigten sie die Grandolos, ihre Töchter, die späteren Schwiegersöhne und Enkelkinder. Pallioti fielen mehrere Fotos auf, die eindeutig Cosimo Grandolo als jungen Mann zeigten, wie man anhand seiner Größe oder eher fehlenden Größe sowie an den auffälligen und tatsächlich nicht besonders feinen Gesichtszügen erkennen konnte. Entsprechende Fotos von der Signora als Mädchen gab es nicht. Das erste, auf dem sie zu sehen war, war ihr Verlobungsbild. Sie saß auf einem Stuhl, damit sie ihren zukünftigen Gemahl nicht überragte. Cosimo Grandolo stand hinter ihr, eine Hand beschützend auf ihrer Schulter. In den Rahmen war ein Datum aus dem August 1948 eingraviert.
    Pallioti beugte sich vor. Sie hatte die dunklen Haare seitlich gescheitelt, so wie es damals schick war. Die Innenrolle fiel auf ihre Schultern. An den gefalteten Händen blinkte der schmale Verlobungsring. An ihrem eleganten Handgelenk hing ein Armband mit dunklen Steinen, wahrscheinlich Saphiren, gewiss ein Familienerbstück, das nach dem Fototermin in den Familiensafe auf der Bank zurückgelegt worden war. Sie lächelte. Aber darunter meinte er, noch etwas in ihrem Gesicht zu erkennen. Trauer. Oder vielleicht nur Erinnerungen.
    Er richtete sich auf und drehte sich um. Signora Grandolo stand neben dem Kamin, in dem ein Feuer brannte. Schatten zuckten über ihre Wangen.
    »Am Anfang war mir das nicht klar«, setzte er an. »Aber bei dieser Geschichte geht es vor allem darum, was wir sehen und was wir zu sehen meinen. Das sind zwei verschiedene Dinge, und beide sind gleichzeitig real und irreal. Meinen Sie nicht auch?«
    Als sie nicht antwortete, zuckte er mit den Achseln.
    »Es klingt widersprüchlich, aber das ist es nicht – es ist etwas, auf das sich jeder Zauberkünstler versteht, wenn er auf einer Piazza Karnickel aus seinem Hut und Tauben aus seinem Ärmel zieht. Und zwar nur zu gut. Und trotzdem weigern wir uns im Alltag immer wieder, das anzuerkennen. Eine Freundin von mir hat mir das erst heute wieder bewusst gemacht.«
    Er hatte seinen Mantel aufgeknöpft. Jetzt ließ er ihn von den Armen gleiten und faltete die weiche, dunkle Kaschmirwolle so zusammen, dass die nassen Schultern aufeinanderlagen.
    »Bitte.« Sie deutete auf das Sofa.
    Pallioti legte den zusammengefalteten Mantel über seinen Arm. Den angebotenen Drink hatte er bereits abgelehnt. Kurz sah er dem Spiel der Flammen zu, dem schnellen Tanz, den die Schatten auf der Kaminlaibung aufführten. Er klappte den Mund auf und schloss ihn wieder, als wüsste er nicht, wo er anfangen sollte, oder als widerstrebe es ihm, die Worte auszusprechen. Schließlich sagte er: »Die ganze Geschichte begann vor vielen Jahren …«
    Signora Grandolo lächelte. »Wie alle guten Geschichten.«
    »Wie alle guten Geschichten«, wiederholte Pallioti. Dann sagte er: »Es waren einmal zwei Schwestern …«
    Er wartete ab, ob sie sich setzen würde, doch sie schüttelte den Kopf.
    »Ich sitze den ganzen Tag. Am Schreibtisch, beim Lesen. Aber bitte …« Sie deutete wieder auf das Sofa.
    Er setzte sich. Diesmal waren die Polster angenehm fest. Auf dem Tisch vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch. Die Biografie eines Generals. Eine Lesebrille lag aufgeklappt daneben.
    »Diese Schwestern hießen Isabella und Caterina. Eine war blond, die andere war dunkel, und beide wohnten hier in Florenz, zusammen mit einem älteren Bruder und ihren Eltern. Ihr Vater war Professor an der Universität.« Er sah sie kurz an. »Ein gutherziger, belesener Mann, der die Faschisten hasste. Ganz im Stillen, so wie die meisten Menschen, wenn sie am Leben bleiben und ihre Arbeit behalten wollten. Ihre Mutter«, fuhr er fort, »stammte aus einer reichen Familie, es ging ihnen also nicht schlecht. Als der Waffenstillstand geschlossen wurde, arbeitete die ältere Schwester, Caterina, bereits als Krankenschwester. Sie war mit einem Marineoffizier verlobt, einem jungen Arzt. Die andere Schwester studierte noch. Ihr Bruder Enrico diente als Jungoffizier in der Armee. Weil er nicht in ein deutsches Arbeitslager gesteckt werden wollte, wie so viele andere«, er nickte zu dem Foto von Cosimo Grandolo hin, das auf einem Beistelltisch stand, »desertierte Enrico nach dem Waffenstillstand zusammen mit einem Freund, einem jungen Mann namens Carlo. Die beiden kehrten heimlich nach Florenz zurück, wo Enricos Vater den Kontakt zu einer Gruppe an seiner Universität

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