Die Toten der Villa Triste
Wahrheit war, dass sich viele von ihnen nie erholen würden. Mit viel Glück fanden sie dort wenigstens etwas Ruhe.
»Von dort aus führt ein Weg in die Berge«, sagte sie. »Erinnerst du dich?«
Allerdings. Dort begann die Via degli Dei, der Pilgerpfad, den wir eines Sommers mit Papa entlanggewandert waren und der den ganzen Apennin entlang bis nach Bologna und weiter ins Podelta führte. Von dort aus gab es verschiedene Routen nach Norden, den Alpen und der Schweiz zu.
Ich sah Issa an. Sie erwiderte meinen Blick und schaute dann wieder auf die Fische.
»Es gibt Straßensperren«, murmelte sie. »Wir brauchen jemanden, am besten eine Krankenschwester, die erklären kann, warum die Patienten verlegt werden müssen.«
Eine Kälte, die nichts mit der diesigen Abendluft zu tun hatte, machte sich in mir breit. Sie erblühte in meinen Eingeweiden und reckte sich von dort aus meinem Herzen entgegen. Bevor sie meinen Mund erreichen und verschließen konnte, nickte ich.
An diesem Abend teilten wir unseren Esstisch mit drei verängstigten, eingeschüchterten Jungen, die seit einer knappen Woche in unserem Keller hausten. Mama sprach fließend Englisch, Issa immerhin ein paar Worte. Ich konnte kein Wort mit ihnen wechseln und verstand nichts von dem, was sie sagten. Trotzdem waren sie jemandes Bruder, Freund, womöglich sogar Verlobter oder Ehemann. Jeder von ihnen hätte Lodo oder Enrico oder sein Freund Carlo sein können. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich wütend auf Issa gewesen war, nachdem sie diese Männer in unser Haus gebracht hatte, und weil ich ihr und ihnen die Schuld an meiner Angst gegeben hatte. Sie hatten bereits von unserem Plan erfahren. Das ganze Essen hindurch spürte ich, wie sie mich aufmerksam beobachteten. Wie sie mich einzuschätzen versuchten. Zu entscheiden versuchten, ob ich ihnen das Leben retten konnte oder nicht.
Issa hatte beschlossen, dass wir sie am besten am Spätnachmittag wegbringen sollten. Inzwischen wurde es immer früher dunkel. Wenn sie erst die Berge erreicht hatten, konnten sie die ganze Nacht durchmarschieren. Issa wollte so viel Zeit wie möglich bekommen und sich so weit wie möglich von Fiesole entfernen, bevor sie sich tagsüber verstecken mussten.
Erst als sie das sagte, begriff ich, dass sie mitgehen würde, dass sie die drei auf der Via degli Dei über den Pass und an den halb fertigen Befestigungen der Deutschen vorbeiführen würde. Sobald sie die Berge überwunden hatten, würde sie ihre »Päckchen« einer Gruppe aus Modena übergeben, die sie nach Novara begleiten und dort weiterreichen würde. Sie erzählte mir all das und meinte dann ironisch, sie sei zum Briefträger geworden. Ich fragte sie nicht, ob Rico ihr helfen würde. Oder wie lange sie wegbleiben würde. Ich hatte bereits begriffen, dass es besser war, wenn ich möglichst wenig wusste.
Am nächsten Morgen merkte ich, dass Issas Plan nicht so leicht durchzuführen sein würde, wie sie glaubte. Wir waren übereingekommen, dass es am besten war, wenn der Krankenwagen zu unserem Haus kam. Drei Kriegsgefangene durch die Straßen zum Krankenhaus oder zu einem anderen Treffpunkt zu begleiten war einfach zu gefährlich. Stattdessen dachten wir uns eine Geschichte aus, dass Mama auf der Treppe gestolpert sei und sich den Kopf angeschlagen hätte. Sie würde sich ein paar Tage nicht sehen lassen und dann aus dem Krankenhaus »heimkommen«. Nachdem wir kein Personal mehr hatten, war das kein Problem. Schwieriger würde es werden, genug Verbandsmaterial abzuzweigen, um die drei jungen Männer in Invaliden zu verwandeln.
Dank meiner neuen Stellung hatte ich Zugang zu Verbänden und Pflastern. Trotzdem konnte ich sie nicht einfach in eine Einkaufstasche stecken und damit aus dem Krankenhaus spazieren. Oder etwa doch? Stundenlang hatte ich wach gelegen und darüber nachgedacht, bis ich zu dem Schluss gekommen war, dass ich genau das tun würde. Hin und wieder kaufte ich auf dem Weg zur Arbeit auf dem Markt ein, darum war es nicht ungewöhnlich, dass ich mit einem Rucksack im Krankenhaus auftauchte. Nachdem dieses Problem gelöst war, wagte ich mich an die vertrackteren Fragen – woher ich die Papiere bekommen sollte, um die Verlegung meiner Patienten zu erklären, und wie ich selbst von der Arbeit wegbleiben konnte, ohne dass es Verdacht erregte.
Das zweite Problem ging ich an, sobald ich im Krankenhaus angekommen war. Zum einen verzichtete ich auf das bisschen Puder und Lippenstift, das ich sonst
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