Die Toten der Villa Triste
immer auflegte. Nachdem ich die ganze Nacht wach gelegen hatte, brauchte ich meine kränkliche Blässe und den glasigen Blick nicht einmal vorzutäuschen. Im Lauf des Vormittags begann ich zu husten – nicht besonders stark, aber regelmäßig. Gegen Mittag warf mir die älteste Stationsschwester argwöhnische Blicke zu. Eine Stunde später schickte sie mich heim.
Ich protestierte, ich sei nur erkältet. Vielleicht, antwortete sie. Aber wenn tatsächlich eine Grippeepidemie anrollte, wie mittlerweile alle fürchteten, mussten ihre Angestellten gesund sein. Sie konnte es sich nicht leisten, dass ich nur mit halber Kraft arbeitete. Um zwei Uhr saß ich auf meinem Fahrrad und strampelte über die Brücke nach Hause, den Rucksack vollgepackt mit einem Bündel Karotten obenauf sowie zahllosen Gazerollen und Verbandsklammern darunter.
Die Papiere steckten zusammengefaltet in einem Schlitz, den ich in den Saum meines alten Mantels geschnitten hatte. Ganz früh am Morgen hatte ich mich in die Verwaltung geschlichen und drei Formulare eingesteckt. Ich würde höchstens zwanzig Minuten brauchen, bis ich sie zu Hause mit erfundenen Namen und Verletzungen ausgefüllt und die Unterschrift der Oberschwester gefälscht hatte, mit der die Verlegung der Patienten in das Kloster von Fiesole genehmigt wurde.
Bis zu diesem Punkt hatte ich das ganze Projekt zu meiner Überraschung fast unterhaltsam gefunden. Unsere Familie hatte schon immer gern Theater gespielt, vor allem Scharade, und ich hatte mich mit der Illusion getröstet, dass dies hier nicht viel anders sei. Nur ein bisschen Schauspielerei. Eine Mutprobe. Als würde ich über das Terrassendach klettern. Erst als ich Papas Stift in der Hand hielt, an seinem Schreibtisch saß und mit dem Namen der Oberschwester unterschrieb, überkam mich eine Welle eisiger Angst.
Ich glaube, wenn ich gekonnt hätte, hätte ich den Stift fallen lassen, die Papiere in Fetzen gerissen und es mir anders überlegt. Aber natürlich war es dafür zu spät. Issa war schon unterwegs. Sie würde mit Kleidern, Stiefeln und Jacken in Fiesole auf die Männer warten. Für die Fahrt dorthin zogen Mama und ich ihnen je einen von Enricos ältesten Pyjamas an. Dann versuchte ich, mit möglichst ruhigen Fingern ihre Köpfe und Hände zu bandagieren. Ich gab mir Mühe, ihnen nicht in die Augen zu sehen, während ich die Klammern feststeckte und Mama ihre Wangen bleich puderte.
Kurz vor vier Uhr nachmittags setzte der Krankenwagen rückwärts in unsere Einfahrt. Papa stand scheinbar aufgewühlt in der Haustür. Erst als wir ein paar Minuten später aus der Einfahrt rollten, merkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte.
Der Fahrer war ein junger Mann mit blassen, langfingrigen Händen und einem jener Gesichter, die viel zu früh altern.
Wir fuhren den Hügel hinunter, vermieden den Lungarno mit seinen vielen Hakenkreuzflaggen und überquerten den Fluss an der am weitesten entfernten Brücke, um danach langsam in Richtung Porta al Prato zu fahren. Ich fragte den Fahrer nicht nach seinem Namen, und er fragte nicht nach meinem. Tatsächlich sprachen wir wie durch eine stillschweigende Übereinkunft gar nicht. Jeweils in einem Käfig aus Angst gefangen, saßen wir nebeneinander, ohne uns überhaupt wahrzunehmen.
Der Abend war klar. Die Dämmerung senkte sich langsam über die Stadt. An der Fortezza da Basso beobachteten wir eine Formation von Schwarzhemden. Sie sahen aus wie Kinder, Burschen mit Flaum auf der Oberlippe, die sich verkleidet hatten und Mörder spielten. Sobald sie vor uns über die Straße marschiert und verschwunden waren, spuckte mein Begleiter voller Hass und Verachtung aus.
Knapp zwei Kilometer außerhalb der Stadt kamen wir am Fuß der Hügel an eine Straßensperre. Wahrscheinlich wusste der Fahrer, dass sie da war; er schaltete herunter und fuhr besonders langsam in die Kurve, ich hingegen sah den Posten erst, als wir direkt darauf zufuhren.
Die Schranke war heruntergelassen. Auf beiden Seiten gab es ein Wachhaus. Ich wusste nicht, wie viele Männer ich dort erwartet hatte, aber zu meiner Überraschung kam nur einer aus dem Häuschen und schwenkte eine Taschenlampe. Unser Wagen rollte aus. Wie hypnotisiert starrte ich durch die Windschutzscheibe in den Lichtstrahl und hielt mit beiden Händen die Ledertasche umklammert, in der die Papiere lagen. Dann berührte etwas meine Schulter. Die Finger des Fahrers. Selbst durch den Uniformumhang fühlten sie sich knochig und hart an. Er sah mich
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